Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
weiter. Sie werden sehen: Alles passt zusammen.«
Der Umschlag trug nicht unbedingt dazu bei, Strikes Vertrauen in Bristows Mutmaßungen zu befördern. Derartige Aufzeichnungen waren ihm nicht unbekannt: hastig hingeschmierte Ergebnisse einsamer, verbissener Spekulationen; beharrliche Auslassungen über abseitige Theorien, denen jede Objektivität fehlte; komplexe Zeittabellen, die auf Biegen und Brechen unmöglichen Umständen angepasst wurden. Das linke Augenlid des Anwalts zuckte, das Knie federte unablässig auf und nieder, und die Finger, die den Umschlag hielten, zitterten.
Strike wog diese Stresssignale mehrere Sekunden lang gegen Bristows zweifellos handgenähte Schuhe und die Vacheron Constantin ab, die beim Gestikulieren an seinem blassen Handgelenk zum Vorschein kam. Dieser Mann konnte und würde ihn bezahlen; womöglich sogar lange genug, um die Rate des Kredits zurückzuzahlen, die die drängendste seiner Schulden darstellte.
»Mr. Bristow …«, begann Strike, seufzte und verfluchte insgeheim seine Skrupel.
»Nennen Sie mich John.«
»John … Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass es anständig von mir wäre, Ihr Geld anzunehmen.«
Rote Flecken erblühten auf Bristows blassem Hals und auf seinem unscheinbaren Gesicht. Er hielt Strike den Umschlag unverwandt entgegen.
»Wie meinen Sie das, nicht anständig?«
»Der Tod Ihrer Schwester wurde ganz sicher so ausführlich untersucht, wie es den Behörden nur möglich war. Millionen Menschen und Medien aus aller Welt haben jeden Schritt der Ermittler minutiös verfolgt. Die Polizei ist doppelt so gründlich vorgegangen wie sonst, das können Sie mir glauben. Natürlich ist ein Selbstmord für die Hinterbliebenen nur schwer zu akzeptieren …«
»Und ich werde es auch nicht akzeptieren. Niemals! Sie hat sich nicht selbst umgebracht. Irgendjemand hat sie von diesem Balkon gestoßen.«
Der Presslufthammer hielt abrupt inne, sodass Bristows Stimme laut durch den Raum hallte – der unvermittelte Wutausbruch eines sonst sanften, schwachen Mannes am Rand der Verzweiflung.
»Aber natürlich. Ich verstehe. Sie gehören also auch zu denen, ja? Sie sind auch nur einer dieser beschissenen Hobby-psychologen. Charlie ist tot, mein Vater ist tot, Lula ist tot, und meine Mutter liegt im Sterben – ich habe alle Menschen verloren, die mir wichtig sind, daher brauche ich einen Seelenklempner und keinen Privatdetektiv, nicht wahr? Glauben Sie nicht, dass ich diesen Mist mittlerweile schon hundertmal gehört habe?«
Bristow stand auf und wirkte trotz seiner Hasenzähne und der roten Flecken auf der Haut fast schon ein wenig einschüchternd.
»Ich bin ein sehr reicher Mann, Strike. Tut mir leid, dass ich das so unverblümt sagen muss, aber bitte sehr. Mein Vater hat mir einen beträchtlichen Treuhandfonds hinterlassen. Ich habe nachgesehen, wie hoch der übliche Tarif für derlei Ermittlungen ist, und würde Ihnen mit Freuden das Doppelte bezahlen.«
Das Doppelte. Das war das K.o. für Strikes sonst so felsenfestes und unbeugsames, aber durch wiederholte Schicksalsschläge angezähltes Gewissen. Sein innerer Schweinehund hingegen vergnügte sich bereits mit fröhlichen Spekulationen: Ein Monat in Bristows Diensten, und er könnte die Aushilfe und einen Teil der ausstehenden Miete bezahlen. Zwei Monate, und er wäre die dringendsten Schulden los … Drei Monate, und das überzogene Konto wäre so gut wie ausgeglichen … Vier Monate …
John Bristow ging auf die Tür zu, wobei er den Umschlag, den Strike nicht hatte annehmen wollen, fest umklammerte und zerknickte. Über seine Schulter hinweg sagte er: »Ich wollte Sie um Charlies willen engagieren, aber ich habe selbstverständlich Erkundigungen über Sie eingeholt. Ich bin ja kein Volltrottel. Sonderermittlungseinheit der Militärpolizei, nicht wahr? Hochdekoriert. Ihr Büro beeindruckt mich allerdings weniger.« Bristow brüllte jetzt fast, und Strike bemerkte, dass die gedämpften Frauenstimmen im Vorzimmer verstummt waren. »Aber anscheinend habe ich mich geirrt, was Ihre finanzielle Situation angeht, und Sie können es sich leisten, diesen Auftrag abzulehnen. In Ordnung! Vergessen Sie’s einfach. Ich finde bestimmt einen anderen, der diese Aufgabe übernimmt. Entschuldigen Sie vielmals, dass ich Ihre Zeit gestohlen habe!«
4
Mehrere Minuten lang war die Unterhaltung der beiden Männer auf der anderen Seite der dünnen Wand mit zunehmender Deutlichkeit zu hören gewesen; in der
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