Der Ruf des Kulanjango
Fischadler zurückkehrt.
»Du musst die Augen schließen«, rief Iona. »Sei ein Vogel. Spür den Wind unter dir, Callum. Lass dich von ihm tragen!«
Ich schloss die Augen und versuchte zu vergessen, dass ich wie eine idiotische Vogelscheuche an einem Hang stand. Alles, was ich hörte, war das leise Pfeifen des Windes, der durch das trockene Heidekraut fuhr. Er floss um mich undzerrte an den Ärmeln meines Pullovers. Ich lehnte mich in den Wind, ließ ihn durch die Finger strömen. Ich streckte sie weit auseinander, wie Federn. Ich versuchte mir vorzustellen, ich sei ein Vogel, schwerelos, emporgehoben, hinauf, hinauf in den hellen, blauen Himmel, über die Berge hinweg, hinauf zu den Stürmen, hinauf, hinauf, hinauf zu den splittrigen Strahlen der Sonne.
»Ich kann sie sehen!«, schrie Iona.
Ich öffnete die Augen und blinzelte in das Sonnenlicht. In der Ferne sah ich die Silhouette eines Vogels. Sie sah aus wie die Gestalt, die ein kleines Kind malt, wenn es eine Möwe zeichnen will. Aber das war keine Möwe. Es war größer, viel größer.
Der Vogel kam näher, legte sich in eine Kurve und man konnte das Weiß seines Bauchs, die Schattierungen an den Flügeln und die Schwanzfedern sehen. Ich schaute durchs Fernglas.
»Das ist eindeutig ein Fischadler«, sagte ich.
»Natürlich ist es einer«, entgegnete Iona. »Los, wir schauen ihn uns näher an.«
Wir rannten den Hügel hinunter zu den bewaldeten Ufern des Sees.
Iona huschte vor mir durchs Gehölz. Als ich mich an der Eiche hochhangelte, saß Iona bereits auf einer Holzkiste. Ihre Augen glänzten. »Schau, er hat sie schon erspäht.«
Ich blickte hinüber zum Adlerhorst. Das Männchen stand oben auf dem Nest. Die Schwingen waren leicht geöffnetund zeigten die weiße Unterseite. Plötzlich erhob er sich, mit einem Fisch in den Krallen, in die Lüfte. Er flog höher und höher und wir konnten seinen schrillen Ruf hören: »Kiii … kiii … kiii«. Dann tauchte er, den Fisch fest im Griff, im Sturzflug in die Tiefe. Nicht mehr als ein Fleck, hob er sich vom bewaldeten Hang ab, schoss immer schneller und schneller dem Wasser entgegen, bis er den Fall abbremste und noch einmal hoch hinauf in die Lüfte stieg. Das Weibchen kreiste derweil weit oben am Himmel und beobachtete das Geschehen.
»Er vollführt einen Himmelstanz«, sagte Iona mit einem Grinsen. »Er möchte sie beeindrucken.«
Das Männchen wiederholte seine spektakuläre Aktion, aber dieses Mal schwang er sich nach dem Sturzflug mit dem Fisch zum Horst zurück.
Wir beobachteten, wie das Weibchen seine Kreise immer tiefer zog, bis sie auf einem Baum in der Nähe des Männchens landete. Der Ast geriet ins Schwanken, sie klammerte sich an ihn und inspizierte den Horst. Ich hielt den Atem an.
Plötzlich aber flatterte sie mit den Flügeln, schwang sich über die Bäume hinter uns und verschwand.
»Sie war nicht besonders beeindruckt«, sagte ich.
Ich richtete mein Fernglas auf das Männchen und musste fast lachen. Wenn ein Vogel überhaupt total enttäuscht aussehen konnte, dann er. Die Federn auf seinem Kopf waren zersaust und er starrte fortwährend auf seinen Fisch, als wäre das ganze Dilemma seine Schuld.
»Da kommt sie wieder!«, flüsterte Iona.
Das Weibchen stieß herab, leise und mit ausladendem Flügelschlag, und landete direkt im Horst. Sie schritt am Rand auf und ab und legte ein paar Stöcke zurecht, als seien sie nicht ganz nach ihrem Geschmack geordnet. Dann zog sie dem Männchen den Fisch weg und begann Fleischstückchen herauszureißen.
Iona lehnte sich an mich und schubste mich sanft. »Schau, sie mag ihn.«
Ich nickte und aus irgendeinem Grund wurde mein Gesicht knallrot.
Kapitel 7
Ich streute braunen Zucker auf mein Porridge und beobachtete, wie er zu klebrig goldenen kleinen Flecken schmolz.
»Davon werden deine Zähne verfaulen«, sagte Dad. Auf sein eigenes Porridge streute er Salz, gab einen kleinen Klumpen Butter dazu und verrührte das Ganze. Er sah müde und griesgrämig aus. Vermutlich war er die ganze Nacht wach gewesen, um die Mutterschafe zu untersuchen, die bald lammen sollten.
»Du bist gestern spät vom Fußballspielen zurückgekommen«, sagte Dad. Er blätterte in einem Landwirtschaftsmagazin neben seinem Teller. »Graham und ich hätten etwas Hilfe brauchen können.«
Ich wollte ihnen erzählen, dass ich in den Bergen war und einen Fischadler gesehen hatte. Mein Bedürfnis, ihnen mitzuteilen, dass auf unserem Land Adler siedelten, brachte mich fast
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