Der Samurai von Savannah
ergriff ihre neue Rolle sofort von ihr Besitz. Sie wurde verkannt und missverstanden, sie war aufopfernd und tapfer, lieferte sich ihren Feinden aus, damit ihr Mann in Freiheit blieb … und menschenfreundlich war sie auch, wenn sie sich da in die tiefste Wildnis hinauswagte, Moskitos, Schlangen, Zwergfischen und Schlimmerem trotzend, um einen armen irregeleiteten Japanerjungen zu retten. Sie spürte bereits, wie ihr von der Vielschichtigkeit ihres Tuns die Tränen kamen. »Gib mir fünf Minuten, Sax«, flüsterte sie, »mehr verlange ich nicht. Fünf Minuten allein mit dir.«
Er zögerte. In seinen Augen waren Fische – und noch etwas anderes, etwas Hartes, Unnachgiebiges. Dann aber ergriff er ihre Hand, führte sie in sein Zimmer und zog die Tür fest hinter ihnen zu.
Es war nicht der rechte Zeitpunkt für Sex, obwohl sie der Gedanke daran in einem unwillkürlichen kleinen Krampf durchzuckte, und ihr Puls beschleunigte sich kaum merklich. Sie warf sich in seine Arme und ließ die Tränen fließen. Wieder und wieder versicherte sie ihm, dass zwischen ihr und Hiro nichts gewesen sei, eine völlig unschuldige Sache, ein Irrtum, und dass sie ihn nur für ihr Schreiben benutzt habe, nie daran gedacht habe, ihm bei der Flucht zu helfen oder ihn in den Kofferraum des Wagens zu bringen. Er musste ihr glauben. Er glaubte ihr doch, oder?
Drei Stunden im Gefängnis von Clinch County hatten seine Laune keineswegs verbessert, aber er war so fischbesessen, dass er seinen Zorn nicht länger wirklich auf eine Sache konzentrieren konnte. Sie waren da draußen, seine Albinos, in fünf Plastikeimern, völlig schutzlos. Er musste sie holen gehen und sich um alles Übrige später kümmern. »Ich glaube dir«, sagte er.
Es kam dann so, dass sie beide zusammen im Mercedes in den Sumpf fuhren und Owen ihnen mit dem Mazda folgte. Beim Fahren, den Unterarm locker aufs Lenkrad gelegt, das Radio voll aufgedreht, entspannte sich Saxby allmählich, plapperte von seinen Fischen, seinen Netzen und Aquarien, bis Ruth irgendwann dachte, es könnte doch noch alles ins Lot kommen. Als sie eintrafen, warteten Abercorn und Turco auf sie, außerdem der Bezirkssheriff, an die zweihundert sonnenverbrannte Schaulustige mit Wohnmobilen, Kühlboxen und qualmenden Holzkohlengrills und ein Haufen von Presseleuten, die mit gezückten Mikrofonen und wild geschwenkten Notizblocks über Ruth hereinbrachen … Das alles wegen des armen Hiro?, dachte sie, und dann erwachte der Gedanke, keimte langsam: Und meinetwegen? Sie fuhr sich durchs Haar, setzte für die Fotografen eine engagierte, teilnahmsvolle Miene auf. War sie hier, um Hiro Tanaka zu retten?, wollte jemand wissen. Hatte sie romantische Beziehungen zu ihm unterhalten? War er wirklich so gefährlich, wie man sagte? Diese Rolle lag ihr, der Teil war leicht. »Kein Kommentar«, flötete sie und schritt rasch aus, ging ungerührt weiter, bis sich der Polizeikordon für sie öffnete und der Fliegenschwarm der Reporter von ihr abließ.
Im nächsten Moment stand sie Turco und Abercorn gegenüber. Ruth spürte, wie sich Saxby neben ihr anspannte, aber sie hielt ihn fest an der Hand, und er beherrschte sich. Abercorn trat vor, sein Fleckengesicht und das perückenhafte Haar waren unter der Krempe des lächerlichsten Hutes verborgen, den sie je außerhalb eines Zirkus gesehen hatte. Er überragte alle anderen in der Menge um einen ganzen Kopf. »Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er, und darin schwang keinerlei Freundlichkeit mit. »Das Boot ist da drüben.« Sie gab Sax einen getupften Kuss, den klickende Objektive und zischende Blitzlichter hinter der Polizeiabsperrung aufzeichneten, dann ging sie mit den Männern davon.
Als Nächstes kam der Sumpf. Mit voller Wucht. Zunächst einmal der Gestank – die ganze Gegend roch wie die Gasse hinter einem Fischmarkt. Dann die Insekten, ganze Legionen von ihnen, jede Art und jeder Appetit war vertreten, und dazu die Schlangen in den Zweigen und der blasige Schaum auf dem Wasser. Sie blickte über die verfilzte Wasserfläche zu den gespenstischen Bäumen in der Ferne und hinauf in die Bäume, die Schatten auf sie warfen, und so weiter bis zum Horizont, und das Ganze erinnerte sie an ein Diorama, das sie einmal gesehen hatte und das die Dinosaurier während ihrer Blütezeit gezeigt hatte. Das Diorama allerdings war in einem kühlen, dunklen, antiseptischen Museum gewesen, mit aufgemalten Bäumen.
Und dann half ihr ein Mann, den sie bis dahin nicht bemerkt hatte,
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