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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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und dem Schwert in den Gedärmen, aber Hiro fehlte die Energie, sich aufzuraffen. Und was hätte er auch tun sollen? Sein wasserdichtes Zelt aufschlagen und sich in einen Daunenschlafsack verkriechen? Seinen Grill anwerfen und sich einen Cheeseburger braten – halb durch, ohne Zwiebeln bitte –, über der weißen Glut der Holzkohlenbriketts? Ein Traum, nichts als ein Traum. Er sah zu, wie die Wolken sich ballten, aufrissen und sich wieder ballten, und dann ließ er die Augen zufallen.
    Er war wieder in Kioto, elf Jahre alt – schon ein Mann, sagte sein ojisan. Seine Großmutter war arbeiten, und er und Großvater sahen fern, eine amerikanische Serie, in der ein Colliehund mit viel hara einen strohblonden kleinen Jungen aus den unwahrscheinlichsten Gefahren rettete, Woche für Woche, im praktischen Halbstundenformat. »Großvater«, bat Hiro, »erzähl mir von meiner Mutter.« Großvaters Beine nahmen sich unter den Falten seines Hauskimonos dünn wie Zaunpfähle aus. Sie saßen Seite an Seite auf dem Mattenboden. An den Wänden türmten sich Kommoden übereinander, vollgestopft mit Kleidung, Seife, Zwirn, Spiegeln, Kämmen und dem vielen Kleinkram eines Haushalts. »Nichts zu erzählen.« Sein Großvater zuckte die Achseln.
    »Sie ist gestorben«, sagte Hiro.
    Großvater betrachtete ihn. Im Fernsehen stand eine lange Kette von nordischen Männern mit nackten Oberkörpern an einem Strand und hob perfekt synchronisiert Krüge mit Kirin-Fassbier an den Mund. »Sie ist gestorben«, bestätigte er. Und dann, weil Hiro inzwischen ein Mann war, weil der Fernseher zuckende Schatten an die Wand warf und weil er alt war und es einfach tun musste, erzählte ihm Großvater die Geschichte, und er ließ dabei nichts aus.
    Sakurako war eine Versagerin gewesen. Ein Dämon war in sie gefahren, und sie hatte ihr Studium, die Aussicht auf eine anständige Ehe und eine eigene Familie, die Liebe und die Achtung ihrer Eltern, alles aufgegeben für ausländische Musik – und dann für einen ausländischen Mann. Einen Hippie. Einen Amerikaner. Als der sie dann verließ, was Großvater von Anfang an vorausgesehen hatte, sank sie in eine Schande, die schlimmer war als die der Mischehe, schlimmer als der Tod ihrer Familie. Sie wurde eine Barhostess, eine »Mama-san« für hundert Männer. Wenn sie durch die alten Straßen von Kioto radelte, ihren kleinen Bastard auf den Rücken geschnallt, starrten ihr alle Leute nach. Sie war verloren, und sie wusste es. Schlimmer noch: Ihr Kind war ebenfalls verloren. Ihr Sohn war ein happa , ein gaijin , für immer ein Ausgestoßener. Ihr einziger Ausweg war es, nach Amerika zu fahren, diesen Doggo zu finden und dort unter den amerikanischen Hippies zu leben, in einer Erniedrigung, die weder Lichtblick noch Tiefpunkt kannte. Aber sie hatte kein Geld, keinen Pass und keine Hoffnung und wusste nichts über ihren Hippie-Gatten. Sie wollte nach Hause zurück. Großvater verriegelte ihr die Tür.
    Der elfjährige Hiro, kurz abrasiertes Haar, Augen wie zwei Schildpattknöpfe, lauschte wie gebannt. Das Fernsehgerät sprach zu ihm, aber er hörte nicht zu. Dieser happa war er. Er war verloren.
    »Und dann«, sagte ojisan , »und dann tat sie eines Nachts, was sie tun musste.« In diesem Augenblick wusste Hiro, was passiert war, das Wissen sank tief in sein Blut wie ein Stein in einen Teich, ertränkte schlagartig und für immer das fadenscheinige Lügengebäude der Großmutter. Seine Mutter war nicht irgendeiner seltsamen Krankheit erlegen – immer nur eine seltsame Krankheit, nie hatte sie einen Namen. Nein. Sie starb von eigener Hand. Aber der Schock der plötzlichen Erkenntnis war nur ein sanfter Stups im Vergleich zu dem, was noch kam: Sie hatte versucht, Hiro mit sich zu nehmen, hatte oyako-shinjū – Eltern-Kind-Selbstmord – begehen wollen, doch auch darin hatte sie versagt. Er kannte doch die Gärten beim Heian-Schrein, oder?, fragte ihn der Großvater.
    Hiro kannte sie gut – seine obāsan ging oft mit ihm dorthin, um die koi , die Karpfen, in den Teichen zu füttern und über die aus der Natur perfekt geformten Skulpturen zu meditieren. Die Mäuler – als der Großvater sprach, sah er die weit aufgesperrten Mäuler der koi an der Oberfläche.
    Und die Brücke auch?
    Hiro nickte.
    Einmal kam sie spät nachts betrunken aus ihrer Bar und fuhr auf dem Fahrrad davon, den Säugling auf den Rücken geschnallt – sie litt an Schlaflosigkeit, die ihr die Scham bescherte. Die Tore des Schreins waren

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