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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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versperrt, die kahl geschorenen Mönche längst zur Ruhe gegangen. Sie lehnte das Fahrrad gegen die Mauer und kletterte hinüber. Im Dunkeln tastete sie sich zu der niedrigen überdachten Brücke und legte dort das Kind ab. Hektisch, stoßweise atmend und in wütendem, gebrochenem Flüstern Selbstgespräche führend, wankte sie auf den Pfad zurück und zerrte dort an einem Stein, einem ornamentalen Block, kratzte mit den Fingernägeln in den Ritzen, bis die Steine daneben blutbeschmiert waren. Sie zog an dem Stein, stemmte sich dagegen, schob und presste und drehte ihn heraus. Endlich gelang es ihr, ihn über die Bretter der Brücke bis dorthin zu bugsieren, wo das schlafende Kind lag, ihr Hiro. In einer letzten wahnwitzigen, übermenschlichen Anstrengung hob sie den Block auf das Geländer, schob ihn sich in die Brustfalte ihres Barmädchen-Kimonos, presste das Kind an sich und übergab sich dem unwiderstehlichen Zug der Schwerkraft und der schwarzen Verklärung des Wassers unter ihr.
    Wasser. Hiro erwachte davon, vom Regen auf seinem Gesicht. Seine Mutter war tot, aber er blieb am Leben, war ihr aus den Armen gerutscht, als sie ins Wasser fiel, und wurde in den Schlamm geschleudert, in den Schlamm, in dem er auch jetzt wieder steckte, verzweifelt, schreiend, und die kahlköpfigen Mönche kamen herbeigerannt. Er setzte sich mühsam auf. Blitze zerrissen den Himmel. Der Regen peitschte übers Wasser, mit bleiernen Kugeln, die die Oberfläche zum Schäumen brachten und auf sein Schlammkissen einhämmerten. Diese Mönche, dachte er, wo waren sie, wenn man sie brauchte? Und dann lachte er, keuchend, delirierend, krank und verhungernd und gejagt, er lachte wie ein kleiner Junge in der Vormittagsvorstellung.
    Aber Moment: Was war das? Da hinten, durch die Bäume und das Krachen des Gewitters hindurch? Eine Stimme. Eine menschliche Stimme. Der Donner polterte über den Himmel, rau und zornig. Ein Blitz fauchte. Aber da war sie wieder – er kannte diese Stimme. Das war, das war –
    »Hiro, Hiro Tanaka, kannst du mich hören? Ich bin es, Ruth. Ich – Will – Dir – Helfen!«
    Helfen.
    »Hiro! Hör mir zu. Ich – Will – Dir – Helfen!«
    Das war, das war – seine Mutter, seine haha , seine Mama!
    Er war jetzt auf den Beinen, der Regen schlug ihm ins Gesicht, das blöde grinsende T-Shirt flatterte in Fetzen um ihn. »Mama!«, schrie er. »Mama!«
    Stille, tief und erwartungsvoll, eine Stille, die sich über den ganzen Sumpf und das Unwetter legte. »Hiro?«, rief die Stimme, und sie kam von überall her, von nirgendwo, war so allgegenwärtig wie die Stimme eines Engels.
    »Haha, haha!«, schrie er wieder und wieder, bis er keine Luft mehr hatte, bis er fühllos wurde, bis sein Gehirn zuklappte und die Sprache kein anderes Wort mehr bereithielt. Und dann sah er es, das Boot, das wie in einem Traum den Nebel durchschnitt, auf ihn zusteuerte, am Bug ein besorgtes weißes Gesicht – seine Mutter, das war seine Mutter, die ihn endlich holen kam –, und dahinter, neben ihr kauernd, mit Hippiehaar und Hippiebart, dieses Gesicht kannte er – das war Doggo, ja, Doggo, sein eigener Vater, der amerikajin.
    Und er stand auf, stand aufrecht im Regen und rief sie, rief sie, bis er heiser war, rief die Mutter, rief den Vater.

DRITTER TEIL
DER HAFEN VON SAVANNAH

JOURNALISMUS
    Es war ein klarer, strahlender Tag, warm, aber nicht drückend, und so trocken, wie es in Savannah nur werden konnte. Es war Mitte September, die Jahreszeit wechselte widerwillig, und die sengenden, feuchten, endlosen Tage des Hochsommers wichen langsam einer milderen, erwartungsvolleren Zeit, dem langen Spätsommer, der den Herbst bis an den Rand des Winters drängen würde. Ruth packte aus, suchte Bügel für ihre Sachen, entfernte die Preisschildchen von einem neuen, knielangen italienischen Stoffmantel mit capeartigen Ärmeln und überdimensionalen Knöpfen und einem atemberaubenden schwarz-weißen Kostüm, dessen Muster aus schnittigen Dreiecken auf einem Grund von fließenden Parabeln bestand. Saxby hatte es ein Fischkostüm genannt. Wieso Fisch?, hatte sie gefragt und ihm den Rock zur Begutachtung hingehalten. Es war in ihrem Zimmer auf Thanatopsis gewesen, und sie hatte nur Slip und BH angehabt, weil sie die neuen Sachen für ihn anprobiert hatte. Weil es aussieht wie geschuppt, Baby, kam die Antwort, der Kosename heiser und lüstern ausgesprochen wie von einem Discjockey. Denkst du denn immer nur daran?, hatte sie gefragt, worauf er sagte: Nein,

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