Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Visitationszimmer vorbei und bekommt immer größere Angst.
Sie blinzelt in der Dunkelheit und bleibt wieder stehen.
Das Surren ist jetzt ganz in der Nähe.
Vorsichtig macht sie ein paar Schritte nach vorn. Die Tür zum Personalraum steht einen Spaltbreit offen. Eine Lampe ist eingeschaltet. Sie streckt die Hand aus und öffnet die Tür.
Zunächst herrscht vollkommene Stille, aber dann hört sie wieder das surrende Geräusch.
Sie nähert sich ihm und sieht das Fußende eines Betts, in dem jemand liegt und mit den Zehen wackelt. Zwei Füße in weißen Strümpfen.
»Hallo?«, sagt sie gedämpft.
Für einen kurzen Moment denkt Saga, dass die Pflegerin im Bett liegt, mit Kopfhörer Musik hört und nichts von dem mitbekommen hat, was passiert ist, bis sie einen weiteren Schritt in den Raum macht.
Das Bett ist voller Blut.
Die junge Frau mit den gepiercten Wangen liegt auf dem Rücken, zittert am ganzen Leib und starrt zur Decke, ist möglicherweise jedoch schon nicht mehr bei Bewusstsein.
Ihr Gesicht zuckt krampfhaft, und zwischen ihren zusammengepressten Lippen blubbern mit einem surrenden Laut Blut und Luft.
»Großer Gott …«
Die Frau hat etwa zehn tiefe Stichwunden im Brustkorb, die bis in Lunge und Herztrakt reichen. Saga kann selbst nichts für sie tun, sie muss so schnell wie möglich Hilfe holen.
Neben dem kaputtgetretenen Handy der Frau tropft Blut auf den Boden.
»Ich hole Hilfe«, verspricht Saga.
Es blubbert zwischen den Lippen, und eine Blutblase bildet sich.
160
Innerlich leer verlässt Saga den Raum.
»Herr im Himmel, Herr im Himmel …«
Sie läuft den Gang hinab und nimmt durch den Schock alles seltsam distanziert wahr, als sie sich dem Ausgang mit der Sicherheitsschleuse nähert. Der Wärter sitzt hinter der äußeren Tür. Seine Gestalt zeichnet sich verschwommen und grau hinter dem Panzerglas ab.
Saga verbirgt das kleine Obstmesser in der Hand, um ihn nicht zu erschrecken, wird langsamer und versucht, ruhig zu atmen, und geht dann die letzten Meter und klopft an die Scheibe.
»Hallo, wir brauchen hier Hilfe!«
Sie klopft fester, aber er reagiert nicht, so dass sie sich seitlich zur Tür bewegt und sieht, dass sie offen steht.
Alle Türen sind offen, denkt sie, als sie hindurchtritt.
Saga will gerade etwas sagen, als sie erkennt, dass der Wärter tot ist. Seine Kehle ist bis zu den Nackenwirbeln durchtrennt worden, so dass sein Kopf lose auf einem Besenstiel zu hängen scheint. Blut ist über seinen Körper gelaufen und hat sich rund um seinen Stuhl in einer Lache gesammelt.
»Okay«, sagt sie zu sich selbst und läuft mit dem Messer in der Hand über den feuchten Boden, die Treppe hinauf und durch das offene Stahltor.
Sie reißt an der Tür zur geschlossenen gerichtspsychiatrischen Station 30, die um diese Uhrzeit, mitten in der Nacht, jedoch abgeschlossen ist. Sie hämmert ein paar Mal dagegen und rennt anschließend den Flur hinab.
»Hallo«, ruft sie. »Ist hier jemand?«
Der zweite Schuh des Arztes liegt im kalten Licht der Neonröhren mitten auf dem Boden.
Saga läuft und sieht in der Ferne eine Bewegung durch mehrere Glasscheiben in verschiedenen Winkeln. Dort steht ein Mann und raucht. Er schnippt die Zigarette fort und verschwindet anschließend nach links. Saga läuft so schnell sie kann auf den verglasten Ausgang und die Verbindungspassage zum Hauptgebäude des Krankenhauses zu. Sie rennt um die Ecke und spürt auf einmal, dass der Boden unter ihren Füßen nass ist.
Das grelle Licht blendet sie, weshalb es für sie zunächst aussieht, als wäre der Boden schwarz, aber dann wird der Blutgeruch so penetrant, dass sie würgen muss.
Es ist eine große Lache, von der blutige Fußspuren zum Eingangsbereich führen.
Traumwandlerisch bewegt sie sich weiter und erblickt den Kopf des jungen Arztes. Er liegt neben einem Mülleimer an der Wand auf dem Boden.
Jurek hat gezielt, aber danebengeworfen, denkt sie und atmet schneller.
Sie geht weiter auf dem trockenen Boden, während ihr wirre, zusammenhangslose Gedanken durch den Kopf schießen.
Was hier geschieht, ist völlig unbegreiflich.
Warum hat er sich die Zeit genommen, das zu tun?
Weil er nicht nur rauswollte, beantwortet sie ihre Frage selbst. Er wollte sich auch rächen.
Plötzlich dringen aus der Passage zum Hauptgebäude schwere Schritte an ihr Ohr.
In Schutzwesten kommen zwei schwarzgekleidete, bewaffnete Wärter im Laufschritt näher.
»Wir brauchen einen Arzt im Sicherheitstrakt«, ruft Saga ihnen
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