Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
herab. Er sieht Jurek unmittelbar nach dem Schuss verschwinden. David Sylwan liegt regungslos im Schnee, und Reidar kann nicht erkennen, wie schwer er verletzt ist.
Im Osten ist der Himmel heller geworden, und Reidar sieht, dass Saga Bauer in einem Fenster der oberen Etage steht.
Sie hat geschossen, ihr Ziel jedoch verfehlt.
Reidar atmet viel zu schnell, sein Herz rast, und ihm wird klar, dass er kurz davorsteht, wegen des Blutverlusts einen Schock zu erleiden. Mikael hustet, hält sich das Ohr und steht taumelnd auf.
»Papa …«
Mehr kann er nicht sagen, dann ist Jurek wieder bei ihm, schlägt ihn erneut zu Boden, packt seine Beine und schleift ihn in der Dunkelheit fort.
»Mikael«, schreit Reidar.
Jurek Walter zieht seinen Sohn durch den Schnee. Mikael greift mit den Armen um sich und versucht, sich irgendwo festzuhalten. Sie verschwinden am Teich entlang Richtung Wasserfall, und er sieht die beiden nur noch als Schatten.
Jurek ist gekommen, um sich Mikael zurückzuholen, denkt er erstaunt.
Es ist immer noch so dunkel, dass Saga die Gestalten von ihrem Fenster aus kaum sehen können wird.
Reidar schreit auf, als er den Griff des Messers packt und zieht, aber es sitzt fest. Er zieht noch einmal und presst das Messer dabei schräg nach unten, es schneidet ins Fleisch, aber der Winkel ist so besser.
Warmes Blut läuft über den Griff der Waffe und über seine Finger.
Er brüllt und zieht noch einmal, bis sich die Klinge endlich aus der Wand hinter ihm löst. Das Messer gleitet aus Reidars Schulter, und er fällt in den Schnee. Er hat solche Schmerzen, dass er weint, während er aufzustehen versucht.
»Mikael!«
Er stolpert zu der brennenden Fackel im Schnee, hebt sie auf und spürt die kurzen Pikser der Funken auf seiner Hand. Er fällt fast wieder hin, hält sich dann aber doch auf den Beinen, schaut zum offenen Wasser am Wasserfall hinüber und erahnt Jureks Silhouette auf dem Schnee. Reidar folgt den beiden, aber seine Kräfte schwinden. Er weiß, dass Jurek vorhat, Mikael in den Wald zu schleifen und für immer mit ihm zu verschwinden.
182
Saga zielt mit ihrer Pistole aus dem Fenster und sieht Reidar Frost im Licht der Fackel, die er in der Hand hält. Er taumelt und scheint zu fallen, wirft dann jedoch die Fackel. Saga wischt sich Blut aus der Augenbraue und sieht das Licht in einem hohen Bogen wirbelnd durch die Dunkelheit fliegen, folgt der Flamme mit den Augen und sieht sie in den Schnee fallen. In ihrem weißen Lichtschein kann sie nun deutlich Jurek Walter erkennen, der Mikael hinter sich her schleift. Die beiden sind mehr als hundert Meter entfernt.
Das ist weit, aber Saga stützt sich trotzdem auf den Fensterrahmen und zielt.
Jurek entfernt sich immer weiter. Die schwarze Gestalt bewegt sich schwankend durch die Schusslinie.
Saga versucht, die Waffe stillzuhalten. Sie atmet langsam, zieht den Abzug am ersten Druckpunkt vorbei, sieht Jureks Kopf verschwinden.
Ihr Blick trübt sich immer wieder, und sie blinzelt schnell.
In der nächsten Sekunde ist der Winkel besser, und sie drückt drei Mal ab, während sich das Korn in einer leicht abfallenden Reihe bewegt.
Das harte, kurze Knallen der Schüsse hallt zwischen Gutshof und Stallungen wider.
Saga sieht, dass zumindest einer der Schüsse Jureks Hals trifft. Blut spritzt heraus und hängt wie roter Nebel vor ihm im grellweißen Licht.
Saga feuert weiter und sieht, dass er Mikael loslässt, in die Dunkelheit fällt und verschwindet.
Saga weicht vom Fenster zurück, dreht sich um, läuft durch die Geheimtür und die Treppe hinunter. Die Pistole in ihrer Hand schlägt klirrend gegen die Stäbe des Geländers. Durch Küche und Flur gelangt sie in den Schnee hinaus. Keuchend nähert sie sich mit erhobener Pistole dem Licht. Etwas weiter entfernt sieht sie das schwarze Wasser des Wasserfalls wie einen metallischen Spalt in der weißen Landschaft schimmern.
Sie eilt durch den tiefen Schnee, schaut zum Wald und versucht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Das Licht der Fackel ist schwächer geworden, bald wird sie erlöschen. Mikael liegt im Schnee auf der Seite und atmet hechelnd. Am Rande des flackernden Lichtkegels sieht sie Blutspritzer, aber Jurek Walter ist verschwunden.
»Jurek«, flüstert sie, stapft ins Licht und sieht seine Fußspuren im Schnee.
Saga hat mörderische Kopfschmerzen, greift aber dennoch nach der Fackel, hebt sie hoch und geht weiter. Das Licht flackert, Schatten und Helligkeit fallen auf den Schnee, und
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