Gefährliche Glut
1. KAPITEL
Ein lautes Geräusch ließ Julie erschrocken herumfahren. Dann griff sie instinktiv nach ihrer Umhängetasche. Hier in der Gegend musste man höllisch aufpassen. Erst gestern war sie von der Leiterin der Kindertagesstätte gewarnt worden, nie irgendwelche persönlichen Unterlagen in der Wohnung zu lassen. Begehrtes Diebesgut waren in letzter Zeit offenbar Ausweispapiere, sodass Julie jetzt alles in ihrer Handtasche bei sich trug.
„Ms. Simmonds?“
Julie zuckte zusammen. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Mann nicht bemerkt hatte, der direkt vor ihrer Haustür stand. Ein kurzer Blick auf ihn genügte, um zu wissen, dass er bestimmt kein Gauner war. Dafür bürgte allein der luxuriöse Wagen, der am Bordstein parkte und anscheinend ihm gehörte. Zumindest hatte Julie das Auto hier noch nie gesehen.
Sie nickte wachsam.
„Und das ist Ihr Kind?“
Jetzt spannte sie sich an, zögerte und drückte ihren kleinen Neffen noch fester an ihre Brust. Dabei versuchte sie entschlossen eine düstere Vorahnung beiseitezuschieben. Immerhin war Josh ja wirklich ihr Kind – wenn auch noch nicht lange.
Sie war bis auf die Haut durchnässt, weil es auf dem Weg zur Kita angefangen hatte zu schütten. Ihre feinen hellblonden Haare fielen ihr in langen dünnen Strähnen über die Schultern, und wahrscheinlich hatte sie vor Kälte schon ganz blaue Lippen. Ausgerechnet in so einem erbärmlichen Zustand musste dieser Mann sie aufhalten und ihr Fragen stellen, die sie nicht beantworten wollte. Josh, die Windeltasche und ihre Handtasche zogen ihre Schultern wie mit Bleigewichten beschwert nach unten.
„Falls Sie ein Geldeintreiber sind …“, begann sie. Ihre Stimme klang dünn vor Müdigkeit und Verachtung, aber sie hatte Herzklopfen vor Angst. Doch Angst wovor? Josh gehörte ihr. Sie hatte nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass dieser Mann versuchen könnte, ihn ihr wegzunehmen. Aber so erging es einem eben, wenn man in ständiger Furcht vor dem Gerichtsvollzieher und nur von der Hand in den Mund lebte. Man fühlte sich schuldig und war nervös, auch wenn es gar keinen Grund dafür gab.
Doch wenn der Mann tatsächlich hinter Geld her sein sollte, verplemperte er nur seine Zeit. Julie reckte stolz das Kinn. Bei ihr gab es nichts mehr zu holen, sogar den Buggy von Josh hatten sie ihr schon weggenommen.
Es war sinnlos, sich selbst zu bemitleiden oder sich zu wünschen, dass ihre Eltern ein Testament gemacht hätten. Am Ende würde sie als einzige Überlebende der Familie sowieso alles erben. Blieb nur zu hoffen, dass das Geld reichte, um Judys Schulden zu begleichen und ein bescheidenes Häuschen zu kaufen, in dem sie mit Josh leben konnte. Obwohl der Anwalt sie bereits vorgewarnt hatte, dass eine endgültige Lösung aufgrund der komplizierten Situation wohl noch einige Zeit auf sich warten lassen würde.
Bis jetzt stand nur fest, dass ihre Eltern, ihre Schwester und James – der Verlobte ihrer Schwester – sowie dessen Eltern zusammen mit zwanzig weiteren Fahrgästen bei einem schweren Zugunglück ums Leben gekommen waren. Der Schock war unvorstellbar gewesen. Julie und ihr kleiner Neffe Josh waren allein zurückgeblieben, sodass Julie sich jetzt um das Kind ihrer verstorbenen Schwester kümmern musste. Und nebenbei versuchte sie irgendwie auch noch James’ Tod zu verkraften.
Die Trauerfeiern waren in gewisser Hinsicht sogar noch schlimmer gewesen als die Todesnachrichten selbst. Natürlich hatte Julie als einziges noch lebendes Familienmitglied die Beerdigung für ihre Eltern und ihre Schwester organisieren müssen. Sie fand, dass es richtig war, Judy und James als Verlobte zusammen zu bestatten, aber James’ ältere Schwester Annette hatte diese Idee empört zurückgewiesen und darauf bestanden, dass James neben ihren Eltern begraben werden sollte.
Bei der Trauerfeier hatte Julie Annette zum ersten Mal persönlich getroffen. Und James’ ältere Schwester war genauso gewesen, wie James sie beschrieben hatte: Arrogant, oberflächlich und kalt.
„Halten Sie mit dem Kind ein bisschen mehr Abstand“, hatte sie scharf gesagt, als Julie ihr mit Josh auf dem Arm vermeintlich zu nah gekommen war. „Dieser Mantel hat ein Vermögen gekostet, er ist aus reinem Kaschmir.“
Rocco sah die Schatten, die über die ungewöhnlich ausdrucksvollen dunkelgrauen Augen der Frau huschten. Diese Augen waren das einzig Lebendige an ihr. Sie war sichtlich am Ende.
„Ein Geldeintreiber?“ Er musterte sie
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