Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
hinunterläuft.
»Sind Sie sicher, dass er es ist?«, flüstert er und sieht der Beamtin in die Augen.
Sie nickt.
»Wir haben soeben die Nachricht von der hundertprozentigen Übereinstimmung der Probe erhalten«, erläutert die Polizistin. »Der Patient im Söder-Krankenhaus ist Mikael Kohler-Frost, und er lebt.«
Veronica ist bei ihm. Sie stützt ihn, als er die Polizistin zum Streifenwagen begleitet.
»Was geschieht hier, Reidar?«, fragt sie angsterfüllt.
Er schaut sie an. Sein Gesicht ist verwirrt, und er sieht auf einmal um viele Jahre gealtert aus.
»Mein kleiner Junge«, sagt er nur.
37
Aus der Ferne betrachtet ähneln die schemenhaft im Schneegestöber erkennbaren weißen Gebäude des Söder-Krankenhauses Grabsteinen.
Völlig geistesabwesend, wie ein Wiedergänger, hatte Reidar Frost sich auf dem Weg nach Stockholm sein Hemd zugeknöpft und in die Hose gesteckt. Die Polizisten haben ihm gesagt, dass der als Mikael Kohler-Frost identifizierte Patient von der Intensivstation auf ein Krankenzimmer verlegt wurde, aber das alles kommt ihm immer noch vor, als geschähe es in einem Paralleluniversum.
Wenn davon auszugehen ist, dass eine Person tot ist, obwohl keine Leiche gefunden wurde, können Angehörige nach einem Jahr beantragen, diesen Menschen für tot erklären zu lassen. Nachdem Reidar sechs Jahre darauf gewartet hatte, dass man die Leichen seiner beiden Kinder finden würde, stellte er den Antrag. Das Finanzamt gab seinem Antrag statt, die Entscheidung wurde ihm mitgeteilt und ein halbes Jahr später rechtskräftig.
Jetzt geht Reidar zusammen mit der Beamtin in Zivil durch einen langen Flur. Er erinnert sich nicht, zu welcher Station sie unterwegs sind, er geht einfach mit ihr, den Blick auf den Kunststoffboden und die sich kreuzenden Spuren gerichtet, die die Räder der Betten dort hinterlassen haben.
Reidar versucht, sich einzureden, dass er sich nicht zu viel erhoffen darf, dass die Polizei sich geirrt haben könnte.
Dreizehn Jahre zuvor waren seine Kinder Felicia und Mikael verschwunden, als sie eines späten Abends zum Spielen das Haus verlassen hatten.
Man suchte die gesamten umliegenden Gewässer mit Tauchern und Schleppankern ab. Es wurden Menschenketten gebildet und an den ersten Tagen ein Hubschrauber eingesetzt.
Reidar überließ der Polizei Fotos, Fingerabdrücke, Zahnschemakarten und DNA-Proben beider Kinder.
Bekannte Straftäter wurden überprüft, aber nach der abschließenden Theorie der örtlichen Polizei war das erste Kind ins eisige Märzwasser gefallen und das zweite in die Tiefe gezogen worden, als es versucht hatte, das erste herauszuziehen. Insgeheim beauftragte Reidar eine Detektei, um andere denkbare Spuren zu untersuchen, in erster Linie alle Personen im Umfeld der Kinder: jeden Lehrer und Freizeitpädagogen, Fußballtrainer und Nachbarn, Briefträger, Busfahrer, Gärtner, Verkäufer in Lebensmittelläden, Bedienungen in Cafés und alle, mit denen die Kinder telefonisch oder im Internet in Kontakt gekommen waren. Die Eltern ihrer Klassenkameraden wurden durchleuchtet und sogar Reidars eigene Familie.
Lange nachdem die Polizei die Suche eingestellt hatte und jeder Mensch bis an den äußersten Rand des Umfelds der Kinder unter die Lupe genommen worden war, musste sich Reidar allmählich eingestehen, dass es vorbei war. Jahrelang ging er trotzdem jeden Tag am Ufer entlang und wartete darauf, dass seine Kinder an Land gespült würden.
Reidar und die Polizistin mit dem blonden Pferdeschwanz auf dem Rücken warten, während ein Krankenbett mit einer alten Frau in den Aufzug gerollt wird. Sie gehen zur Eingangstür der Station und ziehen hellblaue Schuhschoner an.
Reidar wankt und stützt sich an der Wand ab. Mehrmals hat er sich gefragt, ob er träumt, und wagt es nicht, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen.
Sie betreten die Station und kommen an Schwestern in weißen Kitteln vorbei. Reidar hat eigentlich das Gefühl, sich im Griff zu haben, doch seine Schritte werden trotzdem immer schneller.
Die Stimmen anderer Menschen dringen von irgendwoher an sein Ohr, aber in seinem Inneren herrscht eine unfassbare Stille.
Am hinteren Ende rechts liegt Zimmer vier. Als er den Raum betritt und den jungen Mann im Bett liegen sieht, hat er das Gefühl, aus der Wirklichkeit zu fallen. Mikael hat einen Zugang in der Armbeuge und bekommt Sauerstoff durch die Nase. Am Infusionsständer hängt ein Beutel neben einem weißen Pulsoximeter, das an seinen linken Zeigefinger
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