Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
sie sich an die Wange.
»Mikael, ich weiß«, flüstert er und schluckt hart.
»Papa …«
»Ich weiß, Mikael, ich denke die ganze Zeit an sie …«
»Papa«, schreit Mikael mit gellender Stimme. »Ich halte das nicht aus, ich kann nicht, ich …«
»Beruhige dich«, sagt sein Vater tröstend.
»Sie lebt, Felicia lebt«, schreit sein Sohn. »Ich kann hier nicht liegen bleiben, ich muss …«
Er hustet rasselnd, immer weiter. Reidar hält seinen Kopf hoch und versucht, ihm zu helfen. Er wiederholt beruhigende Worte, aber in den Augen seines Sohns lodert abgrundtiefe Panik.
Mikael sinkt stöhnend ins Kissen zurück und flüstert unverständliche Worte, Tränen laufen über seine Wangen.
»Was sagst du da über Felicia?«, fragt Reidar ihn beherrscht.
»Ich will nicht«, keucht er. »Ich kann hier nicht liegen bleiben …«
»Mikael«, unterbricht Reidar ihn. »Du musst dich deutlicher ausdrücken.«
»Ich halte das nicht aus …«
»Du hast gesagt, dass Felicia lebt«, sagt Reidar. »Warum hast du das gesagt?«
»Ich habe sie verlassen, ich habe sie da gelassen«, antwortet Mikael unter Tränen. »Ich bin weggerannt und habe sie zurückgelassen.«
»Willst du mir damit etwa sagen, dass Felicia noch lebt?«, fragt Reidar zum zweiten Mal.
»Ja, Papa«, flüstert Mikael unter Tränen.
»Gütiger Gott im Himmel«, haucht sein Vater und streicht ihm mit zittriger Hand über den Kopf. »Gütiger Gott im Himmel.«
Mikael hustet heftig, und eine Wolke aus Blut wird in den Infusionsschlauch gepresst, er ringt nach Luft, hustet wieder und stöhnt.
»Wir sind die ganze Zeit zusammen gewesen, Papa. In der Dunkelheit, auf dem Fußboden … aber jetzt habe ich sie verlassen.«
Mikael verstummt, als wäre jegliche Kraft aus ihm gewichen. Sein Blick wird langsam trübe und erschöpft.
Reidar sieht seinen Sohn mit einem Gesicht an, aus dem alle Festigkeit gewichen ist, das keine Fassade mehr benötigt.
»Du musst mir sagen …«
Seine Stimme bricht, und er atmet tief durch und wiederholt dann:
»Mikael, du verstehst doch sicher, dass du mir sagen musst, wo sie ist, damit ich sie holen kann …«
»Sie ist noch da … Felicia ist noch da«, antwortet Mikael schwach. »Sie ist noch da. Ich kann sie spüren, und sie hat Angst …«
»Mikael«, fleht Reidar.
»Sie hat Angst, weil sie allein ist … Sie hält das nicht aus, nachts wird sie immer wach und weint, bis sie begreift, dass ich bei ihr bin …«
Reidar spürt ein Stechen in seiner Brust. Unter den Ärmeln seines Hemds haben sich große Schweißflecken gebildet.
44
Reidar hört Mikaels Worte, aber es fällt ihm schwer, ihre Bedeutung zu erfassen. Er steht am Bett seines Sohnes, spricht beruhigend auf ihn ein und schaut ihn an, aber seine Gedanken sind in einem Strudel gefangen. Sie kreisen nur um einen einzigen Punkt. Er muss Felicia holen. Sie darf nicht allein sein.
Er starrt ins Leere und geht mit schweren Schritten zum Fenster. Weit unter ihm sitzen einige Spatzen in kahlen Hagebuttensträuchern. Rund um einen Laternenpfahl haben Hunde in den Schnee gepinkelt. Unter der Bank an der Bushaltestelle liegt ein Fausthandschuh.
Er hört, dass Joona Linna hinter ihm versucht, mehr von Mikael zu erfahren. Seine dunkle Stimme vermischt sich mit Reidars pochenden Herzschlägen.
Seine Fehler sieht man erst hinterher, und manche von ihnen sind so schmerzhaft, dass man sich selbst nicht mehr ertragen kann.
Reidar weiß, dass er früher ein ungerechter Vater war, zwar nicht mit Absicht, aber es war trotzdem geschehen.
Es heißt, man empfinde für jedes seiner Kinder die gleiche Liebe, denkt er. Trotzdem behandelt man sie unterschiedlich.
Mikael war sein Liebling gewesen.
Felicia hatte ihn dagegen ständig gereizt und ihn manchmal so wütend gemacht, dass sie Angst vor ihm bekam. Im Nachhinein ist es unfassbar. Er war doch ein Erwachsener und sie nur ein kleines Kind.
Ich hätte sie nicht anschreien dürfen, denkt er, starrt in den wolkenverhangenen Himmel und spürt, dass der Schmerz in seiner linken Achselhöhle immer stärker wird.
»Ich spüre sie die ganze Zeit«, sagt Mikael zu Joona. »Jetzt liegt sie einfach auf dem Boden … sie hat so furchtbare Angst.«
Ein kräftiger Schmerz in der Brust lässt Reidar aufstöhnen. Schweiß läuft seinen Hals herab. Joona ist bei ihm, greift nach seinem Oberarm und sagt etwas.
»Es ist alles in Ordnung«, erwidert Reidar.
»Haben Sie Schmerzen in der Brust?«, erkundigt sich Joona.
»Ich bin
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