Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Stimme.
»Ach, alles halb so wild«, antwortet Reidar und versucht zu lächeln.
»Was sagen die Ärzte?«, will Mikael wissen.
»Sie sagen, dass ich ein kleines Problem mit den Herzkranzgefäßen habe, aber das glaube ich nicht, na egal, wir müssen Felicia finden.«
»Sie hat geglaubt, es ist dir egal, dass sie weg ist. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht stimmt, aber sie war sich ganz sicher, dass du nur nach mir suchen würdest.«
Reidar sitzt vollkommen still. Er weiß, was Mikael meint, denn er hat nie vergessen, was an jenem letzten Tag geschah. Mikael legt seine hagere Hand auf den Arm seines Vaters und ihre Blicke begegnen sich wieder.
»Du bist aus der Richtung Södertälje gekommen – soll ich da nach ihr suchen?«, fragt Reidar. »Könnte sie da irgendwo sein?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Mikael leise.
»Aber an irgendetwas musst du dich doch erinnern«, fährt Reidar gedämpft fort.
»Ich erinnere mich an alles«, erwidert sein Sohn. »Es ist nur so, dass es einfach nichts gibt, woran ich mich erinnern könnte.«
Joona hat beide Hände auf das Fußende des Betts gelegt. Mikaels Augen sind halb geöffnet, und er klammert sich an die Hand seines Vaters.
»Vorhin hast du gesagt, dass ihr zusammen wart, du und Felicia, auf dem Fußboden in der Dunkelheit«, beginnt Joona.
»Ja«, flüstert Mikael.
»Wie lange seid ihr nur zu zweit gewesen? Wann sind die anderen verschwunden?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet er. »Das lässt sich nicht sagen, die Zeit funktioniert dort nicht so, wie ihr euch das vorstellt.«
»Beschreibe uns den Raum.«
Mikael sieht gequält in Joonas graue Augen.
»Ich habe den Raum nie gesehen«, antwortet er. »Außer am Anfang, als ich klein war … da gab es eine helle Lampe, die manchmal eingeschaltet wurde, dann konnten wir uns anschauen. Aber ich weiß nicht mehr, wie er ausgesehen hat, ich hatte einfach nur Angst …«
»Aber es gibt Dinge, an die du dich erinnerst?«
»An die Dunkelheit, es war fast immer dunkel.«
»Es muss einen Fußboden gegeben haben«, sagt Joona.
»Ja«, flüstert Mikael.
»Sprich weiter«, ermutigt Reidar ihn sanft.
Mikael wendet den Blick von den beiden Männern ab. Er starrt ins Leere, als er von dem Ort erzählt, an dem er so viel Zeit verbracht hat:
»Der Boden … er war hart und kalt. Sechs Schritte so … und vier Schritte so … und die Wände sind aus Beton, der ganz stumm ist, wenn man dagegenschlägt.«
47
Reidar drückt wortlos seine Hand. Mikael schließt die Augen und lässt Bilder und Erinnerungen die Form von Worten annehmen.
»Es gibt eine Couch und eine Matratze, die wir von dem Abfluss im Boden wegziehen, wenn wir den Abfüllhahn benutzen wollen«, sagt er und schluckt schwer.
»Den Abfüllhahn«, wiederholt Joona.
»Und die Tür … sie ist aus Eisen oder Stahl und steht niemals offen. Ich habe sie nie offen gesehen, und auf ihrer Innenseite gibt es weder ein Schloss noch eine Klinke … neben der Tür gibt es ein Loch in der Wand, aus dem kommt der kleine Eimer mit dem Essen. Es ist nur ein kleines Loch, aber wenn man den Arm hineinsteckt und sich nach oben reckt, berührt man mit den Fingerspitzen eine Metallluke …«
Reidar weint still und leise, während er Mikael zuhört, der ihnen alles erzählt, was ihm von diesem Raum in Erinnerung geblieben ist.
»Wir versuchen, sparsam mit dem Essen umzugehen«, erzählt er, »aber manchmal geht es uns trotzdem aus … ein paar Mal hat es so lange gedauert, bis Neues kam, dass wir nur noch dalagen und auf die Luke gehorcht haben und uns übergeben mussten, als wir endlich etwas zu essen bekamen … manchmal kam auch kein Wasser aus dem Abfüllhahn, dann wurden wir durstig, und es fing an, aus dem Abfluss im Boden zu stinken …«
»Was war das für Essen?«, fragt Joona ruhig.
»Irgendwelche Essensreste … Wurststücke, Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln … Makkaroni.«
»Der euch das Essen gebracht hat … hat der nie etwas gesagt?«
»Anfangs haben wir gerufen, sobald die Luke geöffnet wurde, aber dann wurde sie sofort wieder geschlossen und wir bekamen nichts zu essen … von da an haben wir versucht, mit dem Mann zu sprechen, der sie öffnete, aber keine Antwort bekommen. Wir haben jedes Mal gelauscht … wir haben Atemzüge und Schuhe auf Beton gehört … jedes Mal die gleichen Schuhe …«
Joona überprüft, dass die Aufnahme weiterläuft. Er denkt an die unglaubliche Isolation, in der die beiden Geschwister gelebt haben. Die
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