Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
meisten Serienmörder vermeiden jeden Kontakt mit ihren Opfern, sie sprechen nicht mit ihnen, um sie als Objekt behalten zu können. Aber irgendwann müssen sie zu ihren Opfern hineingehen, denn sie wollen das Grauen und die Hilflosigkeit in ihren Gesichtern sehen.
»Du hast gehört, wie er sich bewegt«, sagt Joona. »Hast du noch andere Geräusche gehört, die von draußen kamen?«
»Was sollte das sein?«
»Denk nach«, sagt Joona ernst. »Vögel, Hundegebell, Autos, Züge, Stimmen, Flugzeuge, Hammerschläge, Fernsehton, Lachen, Schreien … Sirenen … irgendwas.«
»Es gab nur noch diesen Sandgeruch …«
Hinter dem Krankenhausfenster ist es dunkel geworden, und harte Tropfen schlagen gegen die Glasscheibe.
»Was habt ihr getan, wenn ihr wach wart?«
»Nichts … Am Anfang, als wir noch ziemlich klein waren, habe ich es geschafft, eine lose Schraube an der Unterseite der Couch herauszudrehen … wir haben mit ihr ein Loch in die Wand gekratzt. Die Schraube wurde so heiß, dass man sich fast an ihr verbrannte. Wir haben eine Ewigkeit daran gearbeitet … es ist alles aus Beton, und nach fünf Zentimetern stößt man auf ein Netz aus Eisen, wir haben in einer Masche weitergegraben, aber ein kleines Stück tiefer kam noch so ein Netz aus Eisenstangen, es ging einfach nicht … Man kann aus der Kapsel nicht fliehen.«
»Warum nennst du den Raum eine Kapsel?«
Mikael lächelt müde, was ihn unendlich einsam aussehen lässt.
»Damit hat Felicia angefangen … sie hat sich vorgestellt, wir wären im Weltall, dass es ein Auftrag wäre, das war in der ersten Zeit, bevor wir aufgehört haben, miteinander zu reden, aber ich habe den Raum in meinen Gedanken weiter Kapsel genannt.«
»Warum habt ihr aufgehört zu reden?«
»Ich weiß nicht, wir haben einfach aufgehört, es gab einfach nichts mehr zu sagen …«
Reidar hebt zitternd die Hand an den Mund. Offenbar kämpft er dagegen an, in Tränen auszubrechen.
»Du sagst, dass man nicht aus ihr fliehen kann … trotzdem ist es dir gelungen«, sagt Joona.
48
Carlos Eliasson, Leiter der Landeskriminalpolizei, ist nach einer Besprechung im Rathaus auf dem Rückweg in sein Büro. Es schneit leicht, während er mit seiner Frau telefoniert. Das Polizeipräsidium gleicht in diesem Moment einem Sommerpalast in einem winterlichen Park. Die Hand, die das Handy hält, ist so kalt geworden, dass seine Finger schmerzen.
»Ich werde alle verfügbaren Kräfte einsetzen.«
»Bist du sicher, dass Mikael wieder gesund wird?«
»Ja.«
Als Carlos auf den Bürgersteig kommt, stampft er den Schnee von seinen Halbschuhen.
»Fantastisch«, murmelt seine Frau. Er hört, wie sie seufzt und sich auf einen Stuhl setzt.
»Ich kann es nicht erzählen«, sagt er nach einer Weile. »Das ist unmöglich, oder?«
»Ja«, antwortet sie.
»Aber was ist, wenn es für die Ermittlungen von entscheidender Bedeutung ist?«, fragt er.
»Du darfst es nicht erzählen«, sagt sie ernst.
Carlos geht die Kungsholmsgatan hinauf, schaut auf die Uhr und hört seine Frau flüstern, dass sie gehen müsse.
»Bis heute Abend«, sagt er leise.
Das Präsidium ist im Laufe der Jahre nach und nach erweitert worden, und jeder einzelne Bauabschnitt zeigt, wie sich der Zeitgeist verändert hat. Der neueste Gebäudetrakt liegt auf Höhe des Kronobergparks. In ihm befinden sich die Büros der Landeskriminalpolizei.
Carlos tritt durch zwei Sicherheitstüren, geht am verglasten Innenhof vorbei und nimmt den Aufzug in die achte Etage. Als er seinen Mantel auszieht, während er an einer Reihe geschlossener Türen vorbeigeht, spiegelt sich Sorge auf seinem Gesicht. In seinem Luftzug flattert ein Zeitungsausschnitt am schwarzen Brett, der dort seit jenem schmerzlichen Abend hängt, an dem der Polizeichor aus der Talentshow des Fernsehens gewählt wurde.
Fünf Kollegen haben sich bereits im Besprechungszimmer eingefunden. Auf dem glatten Kiefernholztisch stehen Gläser und Wasserflaschen. Die gelben Vorhänge sind zurückgezogen worden, so dass der Blick durch die Fensterreihe auf schneebedeckte Baumwipfel fällt. Alle versuchen, Ruhe zu bewahren, hängen insgeheim aber düsteren Gedanken nach. Die Besprechung, zu der Joona sie zusammengerufen hat, soll in zwei Minuten beginnen. Benny Rubin hat sich schon die Schuhe ausgezogen und belehrt Magdalena Ronander darüber, was er von den neuen Formularen für die Sicherheitseinstufungen hält.
Carlos gibt Nathan Pollock und Tommy Kofoed von der
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