Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
gekauft hat.
Sie ist erleichtert, dass sie den Auftrag abgelehnt hat.
Mit großen Schritten eilt sie die Treppen hinauf, schließt die Tür auf, hört Klaviermusik und lächelt in sich hinein. Sie betritt den Raum, sieht Stefan am Klavier sitzen und bleibt stehen. Sein blaues Hemd ist offen. Neben ihm steht eine Flasche Bier, und es riecht nach Zigarettenrauch.
»Liebling«, sagt sie nach einer Weile. »Es tut mir leid … hörst du, es tut mir wirklich wahnsinnig leid, was gestern passiert ist …«
Er spielt sanft und perlend weiter.
»Entschuldige«, sagt sie ernst.
Stefans Gesicht ist abgewandt, aber sie hört seine Worte trotzdem.
»Ich will jetzt nicht mir dir reden.«
Saga hält ihm den Blumenstrauß hin und versucht zu lächeln.
»Entschuldige«, wiederholt sie. »Ich weiß, dass ich ziemlich nervig war, aber ich …«
»Ich spiele«, unterbricht er sie.
»Aber wir müssen darüber reden, was passiert ist.«
»Geh einfach«, sagt er mit lauter Stimme.
»Entschuldige, dass …«
»Und mach die verdammte Tür hinter dir zu.«
Er stellt sich hin und zeigt zum Flur. Saga lässt die Blumen auf den Boden fallen, geht zu ihm und versetzt ihm einen Stoß gegen die Brust, der so fest ist, dass er einen Schritt zurücktaumelt, den Klavierhocker umkippt und die Noten herunterreißt. Sie folgt ihm und ist bereit zuzuschlagen, falls er zum Gegenangriff übergehen sollte, aber Stefan steht einfach nur mit hängenden Armen vor ihr und sieht ihr in die Augen.
»So geht das nicht«, sagt er bloß.
»Ich bin im Moment ein bisschen unausgeglichen«, erwidert sie.
Sie stellt den Klavierhocker wieder hin und hebt die Noten auf. Angst wallt in ihr hoch, und sie weicht einen Schritt zurück.
»Ich will dir nicht wehtun«, sagt er mit einer Leere in der Stimme, die ihre Angst in Panik umschlagen lässt.
»Was soll das heißen?«, fragt sie, und ihr wird schlecht.
»Das geht so nicht weiter, wie können nicht zusammen bleiben, wir …«
Er verstummt, und sie versucht zu lächeln, versucht zu funktionieren, aber auf ihrer Stirn steht kalter Schweiß, und ihr ist schwindlig.
»Weil ich dich gestern Abend genervt habe?«, bringt sie heraus.
Stefan begegnet scheu ihrem Blick.
»Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe, die schönste, die es gibt … und du bist clever und lustig, und ich sollte wirklich glücklicher sein als jeder andere … Ich werde das sicher für den Rest meines Lebens bereuen, aber ich glaube, ich muss unsere Beziehung beenden.«
»Ich kapiere es immer noch nicht«, flüstert sie. »Weil ich wütend geworden bin … weil ich dich gestört habe, als du gespielt hast?«
»Nein, es …«
Er setzt sich wieder und schüttelt den Kopf.
»Ich kann mich ändern«, beteuert sie und sieht ihn einige Sekunden an, ehe sie weiterspricht, »aber es ist schon zu spät – habe ich Recht?«
Als er nickt, dreht sie sich um und verlässt den Raum, geht in den Flur, packt einen alten Schemel aus Dalarna und schlägt den Spiegel ein. Die Scherben fallen herunter und zersplittern auf den Fliesen. Sie stößt die Tür auf, rennt die Treppen hinunter und in das leuchtend blaue Winterlicht hinaus.
61
Saga läuft zwischen den Häuserfassaden und den Schneewällen am Straßenrand auf dem Bürgersteig. Sie atmet die eisige Luft so tief ein, dass es in ihrer Lunge sticht, überquert die Straße, rennt über den Mariatorget, bleibt auf der anderen Seite der Hornsgatan stehen, nimmt Schnee von einem Autodach, presst ihn gegen ihre heißen, brennenden Augen und läuft anschließend nach Hause.
Als sie die Tür aufschließt, zittern ihre Hände. Ein einsamer, wimmernder Laut entfährt ihr, als sie in den Flur tritt und die Tür hinter sich schließt.
Saga lässt die Schlüssel auf den Boden fallen, streift die Schuhe ab und geht auf der Stelle ins Schlafzimmer.
Sie greift nach dem Telefon, wählt und wartet. Nach sechs Klingeltönen wird sie mit Stefans Mailbox verbunden, sie hört den Text nicht ab, sondern wirft das Telefon mit Wucht gegen die Wand.
Sie taumelt, lehnt sich vor und stützt sich auf die Kommode.
Angezogen legt sie sich ins Doppelbett und kauert sich zusammen wie ein Fötus. Sie weiß genau, wann sie sich das letzte Mal so gefühlt hat. Als sie ein Kind war und in den Armen ihrer toten Mutter erwachte.
Saga Bauer weiß nicht mehr, wie alt sie war, als ihre Mutter krank wurde. Aber sie war fünf, als sie begriff, dass ihre Mutter an einem bösartigen Gehirntumor litt. Die
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