Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Krankheit veränderte ihre Mutter in grausamer Weise. Die Chemotherapie machte sie geistesabwesend und zunehmend launisch.
Ihr Vater war so gut wie nie zu Hause. Sie erträgt es nicht, an seinen Verrat zu denken. Als Erwachsene hat sie versucht, sich einzureden, sein Verhalten sei zwar schwach, aber menschlich gewesen. Sie versucht, sich selbst davon zu überzeugen, aber ihre Wut auf ihn will einfach nicht weichen. Es bleibt ihr völlig unverständlich, dass er sich so zurückzog und die Last auf seine kleine Tochter abwälzte. Sie will nicht daran denken und spricht auch nie darüber, es macht sie nur zornig.
In jener Nacht, in der die Krankheit ihre Mutter schließlich besiegte, war sie so müde, dass sie Sagas Hilfe benötigte, um ihre Medikamente einzunehmen. Saga gab ihr eine Tablette nach der anderen und lief los, um ihr Wasserglas aufzufüllen.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte die Mutter.
»Du musst es schaffen.«
»Ruf deinen Vater an und sag ihm, dass ich ihn brauche.«
Saga erfüllte den Wunsch ihrer Mutter und erzählte dem Vater, er müsse sofort nach Hause kommen.
»Mama weiß, dass ich das nicht tun kann«, antwortete er.
»Aber du musst, sie kann nicht mehr …«
Am späteren Abend war ihre Mutter sehr schwach, außer ihren Medikamenten nahm sie nichts zu sich und schimpfte mit Saga, als sie die Pillendose auf dem Teppich umkippte. Ihre Mutter hatte schreckliche Schmerzen, und Saga versuchte, sie zu trösten.
Die Mutter bat Saga nur, den Vater anzurufen und ihm mitzuteilen, dass sie noch vor dem nächsten Morgen tot sein werde.
Saga weinte und meinte, dass sie nicht sterben dürfe und sie selbst nicht leben wolle, wenn ihre Mutter sterben würde. Als sie ihren Vater wieder anrief, liefen ihr Tränen in den Mund. Sie saß auf dem Fußboden und hörte ihre eigenen Schluchzer und die Ansage auf dem Anrufbeantworter ihres Vaters.
»Ruf an … ruf den Papa an«, flüsterte ihre Mutter.
»Ich versuche es ja«, erwiderte Saga schluchzend.
Als ihre Mutter schließlich eingeschlafen war, schaltete Saga die kleine Lampe aus und blieb einige Zeit vor dem Bett stehen. Die Lippen der Mutter glänzten, und sie atmete schwer. Saga kroch in ihre warmen Arme und schlief erschöpft ein. Sie schlief an ihre Mutter geschmiegt, bis sie gegen Morgen davon geweckt wurde, dass sie fror.
Saga verlässt das Bett, betrachtet die Einzelteile des zertrümmerten Handys, zieht den Mantel aus und lässt ihn zu Boden fallen, holt in der Küche eine Schere und geht ins Badezimmer. Sie mustert sich im Spiegel, sieht John Bauers süße Prinzessin und denkt, dass sie ein einsames Mädchen retten könnte. Vielleicht bin ich die Einzige, die Felicia retten kann, denkt sie und betrachtet nachdenklich ihr eigenes Spiegelbild.
62
Nur zwei Stunden , nachdem Saga Bauer ihrem Chef mitgeteilt hatte, dass sie es sich anders überlegt habe und den Auftrag annehmen wolle, soll eine Besprechung stattfinden.
Carlos Eliasson, Verner Zandén, Nathan Pollock und Joona Linna warten in einer Wohnung in der obersten Etage des Hauses Tantogatan 71 mit Aussicht auf das schneebedeckte Eis der Årstaviken und die Eisenbahnbrücke mit der bogenförmigen Fachwerkkonstruktion.
Die Wohnung ist modern eingerichtet, schlichte weiße Möbel und indirekte Beleuchtung. Auf dem großen Esstisch im Wohnzimmer liegen belegte Brote aus der Non Solo Bar. Carlos bleibt abrupt stehen und starrt Saga an, als sie hereinkommt. Verner verstummt mitten in einem Satz und wirkt fast ängstlich, und Nathan Pollock sackt mit traurigem Blick in sich zusammen.
Saga hat sich die langen Haare abgeschnitten. An mehreren Stellen hat sie Schnittwunden am Kopf.
Ihre Augen sind verquollen.
Ihr schöner blasser Teint, die kleinen Ohren und der lange, schlanke Hals kommen in all ihrer Grazie zur Geltung.
Joona Linna geht zu ihr und nimmt sie in die Arme. Sie umarmt ihn einen Moment lang fest, presst ihre Wange an seinen Brustkorb und hört seine Herzschläge.
»Du musst das nicht tun«, sagt er.
»Ich will das Mädchen retten«, antwortet sie leise.
Sie umarmt ihn noch einige Sekunden und geht anschließend in die Küche.
»Die Anwesenden kennst du ja alle«, sagt Verner und zieht für sie einen Stuhl heran.
Saga nickt.
Sie wirft ihren dunkelgrünen Parka auf den Boden und setzt sich auf einen Stuhl. Sie ist ganz normal gekleidet, eine schwarze Jeans und die Sportjacke ihres Boxclubs.
»Wenn du wirklich bereit bist, dich als verdeckte Ermittlerin in Jurek
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