Der Saubere Tod
Die ersten, die im Verhör gestanden, gelogen zu haben, waren die Jungen und Mädchen, die Johann angeblich mit Heroin versorgt hatte. Danach verloren auch die Aussagen einiger Polizisten, die dem Inspektor unterstanden, der Johann in Berlin verhaftet hatte, an Schärfe und Erinnerungsvermögen, und keiner wollte mehr einen klaren Satz formulieren, der mit Es war folgendermaßen ... begann. Statt dessen sagten sie: Mein Instinkt sagte mir – die Erfahrung lehrt im allgemeinen – nach Maßgabe unserer Vorschriften – und so wie die Dinge sich mir seinerzeit darstellten.
Der entscheidende Moment der Verhandlung kam, als die beiden Afghanen vernommen wurden. Johanns Anwalt hatte herausgefunden, daß die beiden illegal vom Osten der Stadt nach Westberlin gekommen waren, in Abschiebehaft gesessen hatten, aus der sie plötzlich entlassen wurden, woraufhin sie kurze Zeit später bei der Staatsanwaltschaft in Johanns Heimatort auftauchten. Die beiden beharrten zunächst auf ihrer Version, aber hielten sie unter der eindringlichen Befragung durch Johanns Anwalt und den Vorsitzenden des Gerichts nicht lange durch. Schließlich erklärten sie rundheraus, Johann nie im Leben gesehen noch irgendwelchen Kontakt zu ihm gehabt zu haben, und gaben zu, daß der Berliner Inspektor sie unter der Bedingung habe laufen lassen, sie würden sich in Süddeutschland mit der von ihm erfundenen Geschichte melden. Danach verlasen sie ein Papier, das ihr Handeln mit ihrem Status als politisch Verfolgte rechtfertigen sollte.
Es wurde deutlich, daß Johann das Opfer einer Intrige geworden war, als deren Urheber der Berliner Inspektor zu gelten hatte. Johann selbst verfolgte den Prozeß schweigend und ohne irgendeine Gefühlsäußerung.
Er wurde freigesprochen und erhielt eine Haftentschädigung von zehn D-Mark pro in Haft verbrachtem Tag zugesprochen. Ein Disziplinarverfahren gegen den Inspektor wurde eingeleitet und später niedergeschlagen. Kein Strafverfahren folgte ihm, da sowohl Johann als auch der Staatsanwalt auf eine Strafverfolgung verzichteten.
Die Akten wurden weggelegt.
Johann kehrte nicht nach Berlin zurück. Er ging mit dem Geld aus Deutschland fort. Im Spätfrühling erhielt Barbara eine Karte von ihm aus Bologna, in der er schrieb, daß er Europa verlassen wolle.
Nachtrag zur Taschenbuchausgabe
›Der saubere Tod‹ entstand, nach Vorarbeiten in Berlin, in den Jahren 1985 und 1986 in Amsterdam und Paris. Nach meinem Debüt mit Kurzgeschichten ist er als mein zweites veröffentlichtes Buch im Frühjahr 1987 erschienen. Ich hatte vor, mich, von den Stories ausgehend, langsam an die große Form des Romans heranzutasten. ›Der saubere Tod‹ markierte eine Etappe auf diesem Weg. Für das Buch, das mein erster Roman werden sollte, machte ich zur Zeit seiner Entstehung bereits Notizen. Ich schrieb es dann zwischen 1988 und 1992 und es erschien 1993 unter dem Titel ›Proteus der Pilger‹. ›Der saubere Tod‹ war von seiner Struktur her immer als eine Erzählung geplant, als ein Text, der nicht den gleichen Anspruch auf große Form und Totalität erhob wie der Roman, den ich mir vorstellte. Als Erzählung schickte ich ihn an die »Münchner Edition« des Schneekluth-Verlags. Dort allerdings überredete man den unbedarften Anfänger, der ich damals war, schnell dazu, das angeblich viel verkaufsträchtigere Label »Roman« unter den Titel zu setzen. Ich bin froh, daß diese Wiederveröffentlichung des Buches es als das bezeichnet, was es immer gewesen ist: als eine Erzählung.
Berlin 2005
Michael Kleeberg
Informationen zum Buch
»Johann Ritter kam nach Berlin, um binnen eines Jahres Geld, eine große Altbauwohnung und einen Sportwagen zu besitzen. Er meinte, daß es nur zwei Wege dorthin gab. Man konnte Drogen verkaufen oder sich selbst. Er war zu beidem bereit. « Berlin 1984, es herrscht politische Windstille. Alles ist möglich und daher einerlei. Was ist noch übrig außer den Hülsen des Lebens, das andere verschossen haben? Lebt man denn, wenn andere leben? fragt sich Johann, der nach Berlin kommt und nichts als Geld verdienen will. Und ist es die Konsequenz, zu sagen, man lebt nur, wenn kein anderer mehr lebt? Angeekelt von der Stadt und den Menschen beschließt Johann, einen Mord zu begehen, um reinen Tisch zu schaffen und all der Beliebigkeit einen sauberen Tod entgegenzusetzen.
Informationen zum Autor
Michael Kleeberg
, geboren 1959 in Stuttgart, wuchs in Böblingen und Hamburg auf. Er lebte in Rom und
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