Der Schädelring: Thriller (German Edition)
fühlte sich an, als ob jemand ihr mit einer Faust voller Nägel einen Schlag versetzt hätte und die Stelle zwischen den Beinen –
„Ich weiß, dass dies schwer für Sie ist, Julia“, sagte Dr. Forrest. „Aber wir müssen dies zu Ende führen. Wir müssen ehrlich sein. An was erinnern Sie sich noch im Zusammenhang mit Ihrem Vater?“
„Er . . . er hat mir vor dem Schlafengehen Geschichten erzählt.“
„Wo hat das stattgefunden? In Ihrem oder in seinem Schlafzimmer?“
„In meinem.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Mein Teddybär war immer neben mir. Draußen vor dem Fenster stand eine Eiche und eine Straßenlampe befand sich auf der anderen Seite des Baums. Es gab immer diese Schattenstreifen in meinem Zimmer. Wir wohnten neben einem Bauernhof; man konnte die Hühner riechen.“
„Wenn er Sie zum Schlafen legte, wie tat er das?“
„Was meinen Sie?“
„Hat er Ihnen geholfen, das Pyjama anzuziehen?“
„Manchmal.“
„Sind Sie je nackt gewesen, als er Sie zu Bett brachte.“
„Kann sein.“
„Hat er Sie je auf eine Art berührt, die sich falsch anfühlte?“
Julia dachte an das faltige Gesicht, an die verkrampften Züge unter der Kapuze, das eigenartige Licht in den Augen des Mannes, der sie mit dem Messer verletzen würde. Ihr Vater. Sie fröstelte und schaute auf ihre Hände nieder, die sich im Schoß unruhig hin und her bewegten. Sein Blut war in ihr. Oder vielleicht hatte er geglaubt, dass ihr Blut und Fleisch ihm gehörte und er damit machen könnte, was er wollte.
„Es ist sehr wichtig, Julia.“ Dr. Forrest beugte sich nach vorn und berührte Julias Knie. „Andere Frauen haben dieselben Erfahrungen durchgemacht. Tun Sie es für diese Frauen.“ Eine Pause und dann ein Flüstern. „Für uns alle.“
Julia schaute die Therapeutin an und versuchte, die traurigen, grauen Augen hinter den Brillengläsern zu deuten. Nicht sie auch? Hatte diese weise und hilfsbereite Frau ein ähnliches Erlebnis gehabt? Gründete ihr Mitgefühl auf einer bewussten Entscheidung? Vielleicht versuchte sie ihre eigenen psychischen Wunden zu heilen, indem sie die Wunden anderer mit Salbe bestrich.
Aber Dr. Forrest hatte überlebt, hatte die Vergangenheit überwunden und die Spuren entfernt. Dr. Forrest hatte es nicht zugelassen, dass der Missbrauch ihr derzeitiges und künftiges Leben zerstörte. Die Therapeutin war ganz und geheilt.
Ein Welle der Wut durchströmte Julia. Man hatte ihr das Leben geraubt. Sie wurde von ihrer Angst und ihren Zweifeln heute noch grausamer vergewaltigt und gefoltert, als ihr das als Kind zugestoßen war. In ihrem Fall war die Narbe schlimmer als die Wunde, denn die verursachte wenigstens Schmerzen, und Schmerzen waren besser als Gefühllosigkeit.
„Hat er Sie je berührt, Julia?“ Die Stimme der Frau verwandelte sich von der professionellen Ruhe in einen scharfen, bestimmten Ton.
„Ich kann mich nicht erinnern“, sagte Julia. Ihre Augen wurden feucht, obschon sie glaubte, das Reservoir der Tränen vollständig geleert zu haben.
Dr. Forrest drückte Julias Handgelenke so stark wie es die Fesseln der bösen Menschen getan hatten. „Er hat sie berührt, nicht wahr?“
Dr. Forrest würde es wissen. Dr. Forrest wusste Dinge über Julia, die sie selbst noch nicht akzeptiert hatte. Sie war jedoch nicht gewillt, diesen letzten schrecklichen Schritt zu tun. Sie war nicht bereit, die Kellertür zu öffnen und das Licht auf jene Knochen scheinen zu lassen. Sie konnte sich nicht dazu bringen, sich an etwas zu erinnern, das ihr ganzes Leben zu einer Lüge machte.
„Okay, tun wir einen Augenblick als ob.“ Dr. Forrest sprach leise und ließ Julias Hände los. „Es ist sicherer, wenn wir uns die Szene zuerst vorstellen. Nehmen wir einmal an, er hätte sie berührt?“
Julia schwieg.
„Welches Gefühl würde das in Ihnen auslösen?“
Julia schaute auf die Uhr. Die Sitzung hatte beinahe zwei Stunden gedauert. Der Evangelist, der ihr Videogerät gekapert hatte, hatte den Sündern mit einer Ewigkeit im Fegfeuer gedroht. Julia war sich nicht klar, ob eine solche Strafe schlimmer wäre als lebenslänglich in ihrem Kopf eingesperrt zu sein.
„Es tut mir Leid“, sagte Julia und massierte sich die Schläfen. „Ich glaube, es ist besser, wir hören auf. Ich habe rasende Kopfschmerzen.“
Dr. Forrest lehnte sich im Stuhl zurück und spitzte den Mund. „Es ist immer schwer, so etwas zuzugeben. Vielleicht gibt es nichts Schlimmeres auf der Welt als erkennen zu müssen, dass
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