Der Schädelring: Thriller (German Edition)
konnte sich kein richtiges Bild von Gott machen. Der alte Mann mit der teigigen Haut, den langen, strähnigen Haaren und der schimmernden Aura, der in den Kinderbibeln beliebt war, tauchte als erster aus dem Nebel der Benommenheit auf.
Dieses strenge väterliche Gesicht war ihr kein Trost. Sie versuchte, sich eine Frau vorzustellen. Die einzigen Vorbilder einer weiblichen Gottheit, die sie kannte, waren die populären Darstellungen von Venus, Athena und den anderen Göttinnen der Mythologie. Diese schönen Gesichter erschienen ihr eher hochmütig und eitel statt großzügig. Sie wischte das Bild der höhnisch auf sie herunterblickenden Gottheit weg, ehe es sich vollständig gebildet hatte. Sie erinnerte sich an etwas, das sie einmal gelesen hatte. Wahrscheinlich war es Nietzsche oder Heidegger oder einer der anderen bekannten Existentialisten gewesen, der die Theorie aufgestellt hatte, dass Gott, falls er tot war, ersetzt werden müsste.
Tönt nach etwas, das Dr. Forrest sagen würde.
Das Gesicht der Therapeutin tauchte nun anstelle der Götter auf. Das Lächeln von Dr. Forrest war gütig, geduldig und verständnisvoll. Der Existentialismus war kein Trost in der Nacht, die menschliche Liebenswürdigkeit war jedoch ein behaglicher Liebhaber.
Letztendlich übermannte sie ein barmherziger Schlaf und die Finger der Vergangenheit zogen sich in den Schatten zurück.
Das erste, das Dr. Forrest am nächsten Morgen äußerte war: „Sie sehen erschöpft aus.“
„Danke, ich habe mir Mühe gegeben.“ Julia zwang sich zu einem Lächeln. Sie fühlte sich zerknittert wie eine Seidenbluse in einer mit Socken vollgestopften Schublade. Dr. Forrest hatte soeben eine Kanne Kaffee aufgesetzt. Ihre Rezeptionistin war nicht anwesend, auch der andere Psychiater, mit der ihre Therapeutin das kleine Geschäftsgebäude teilte, war nicht hier.
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir die Tür abschließen?“ fragte Julia, als sie im Büro saßen.
„Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Es ist gut, dass Sie Ihre Angst erkennen, dass Sie sich nicht selbst anlügen. Lassen wir die Tür jedoch unverriegelt. Wenn wir dann mit der Sitzung fertig sind und kein geistesgestörter Fremder eingebrochen ist, können wir dies als kleinen Sieg feiern.“
Julia nickte. Dr. Forrest hatte viele kleine Siege ausgelöst. Julia war jedoch für einen großen Sieg bereit. Sie fühlte, dass der dunkle Bereich in ihrem Kopf sich auszubreiten schien wie ein kaltes, schwarzes Feuer, das sie von innen heraus verzehrte.
Julia setzte sich auf den Stuhl, während Dr. Forrest die Vorhänge zuzog. Als sie das Licht herunterschraubte, fragte Julia, „Müssen wir im Dunkeln sein?“
„Vertrauen Sie mir“, sagte Dr. Forrest. „Sie möchten doch ganz werden, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Julia und rezitierte das Mantra, das ihr Dr. Forrest gegeben hatte. „Die ganzheitliche Julia Stone.“
„Wo wollen wir beginnen?“ fragte die Therapeutin, als sie Julia gegenüber saß.
Julia wunderte sich, ob sie ihr sagen sollte, dass sie sich Dr. Forrest auf dem hohen Thron des Himmels vorgestellt hatte, entschied sich dann dagegen. Ihr dies mitzuteilen wäre ebenso beunruhigend, wie wenn sie eine lesbische Fantasievorstellung über die ältere Frau gehabt hätte. Das eine war so dumm wie das andere. Erstens war Julia heterosexuell und zweitens säkular. Jedenfalls soweit sie sich bewusst war. „Vielleicht sollte ich Ihnen meinen Traum erzählen.“
„Ah. Haben Sie das Tagebuch mitgebracht?“
Julia zog das Notizbuch aus der Tasche. Dr. Forrest las die neuesten Einträge durch und schaute Julia dann mit einem aufgeregten Blick an. „Ich glaube, dass wir etwas Wichtiges gefunden haben. Sind Sie bereit, sich damit auseinanderzusetzen?“
„Was immer Sie für das Beste halten.“
„Okay. Ich werde Sie hypnotisieren und dieses Mal gehen wir bis ans Ende.“
Julia hielt den Atem an. „Bis ans Ende?“
„Finden wir heraus, was mit der kleinen Julia Stone geschehen ist. Ich glaube, dass ich es weiß. Das Wichtige ist jedoch, dass Sie es wissen.“
Julia krallte sich mit den Fingern in den Armlehnen des Stuhls fest, hörte jedoch den Entspannungsanweisungen von Dr. Forrest zu. Die Therapeutin zählte langsam von Zehn aus rückwärts und führte Julia immer tiefer unter die Oberfläche der Welt wie Persephone auf ihrer jährlichen Reise in die Unterwelt. Julias Augen waren offen und sie konnte ihre Gedanken noch als ihre eigenen erkennen, floss jedoch auf
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