Der Schädelring: Thriller (German Edition)
Charlotte Douglas-Flughafen. Als das Flugzeug sich von der Piste hob, genoss sie das Gefühl der Freiheit und entschloss sich, ihren mentalen Ballast zurückzulassen, obschon sie nicht sicher war, welche Erinnerungen sich darin verbargen.
9
Beim Anflug auf Memphis staunte Julia über die vielen Lichter der großen Stadt. Eine Million Sterne hoben sich gegen den dunklen Hintergrund ab und der Mississippi sah aus wie ein galaktischer Grabenbruch. Nach den Monaten in den ländlichen Blue Ridge Bergen erschien ihr das Gewühl der Menschen am Flughafen sinnlos. Es erinnerte sie an eine Herde Rinder auf dem Weg zur Schlachtbank.
Mitchell holte sie ab. Er trug sein unverwüstliches Anwaltslächeln, eine Rolex, einen maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug, Schuhe, die so stark glänzten, dass sie sein dunkles, lockiges Haar widerspiegeln könnten. Perfekter Mitchell. Noch immer der gleiche und genau so perfekt, wie er bei ihrem letzten Treffen oder bei ihrem ersten Treffen gewesen war. Er wurde nicht älter; er wurde lediglich von immer dickeren Schichten derselben Qualitäten überdeckt.
Als er ihr auf dem Weg zum Gepäckband entgegen kam, fragte sich Julia, weshalb sie nicht einfach dankbar sein konnte für die Stabilität, die er ihr bot. Sie brauchte nur „Ja“ zu sagen und sie könnte spätestens im April „Frau Austin“ sein. Natürlich würde er ihr manchmal auf die Nerven gehen. Er würde ihr nur die obligaten vier Minuten Beischlaft gewähren, sich dann umdrehen, um seinen Börsenmakler anzurufen, würde ihr die Hand streicheln und sie „sein kleines Frauchen“ nennen, würde sie mit langweiligen Angeboten wie Tennisverabredungen und neuen Fensterausstattungen überschütten. Er würde ihr jedoch nie eine böse Erinnerung hinterlassen. Im Gegenteil, sie war überzeugt, dass ihr nach einem gemeinsamen Leben mit ihm nur wenige Erinnerungen bleiben würden.
Und das wäre gar nicht so schlecht.
Sie umarmten sich steif. Er überragte sie und versuchte, ihre Brüste an sich zu drücken. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor seine Lippen ihren Mund fanden. Kein Zungenkuss und sie bot ihm auch keinen an. Sein Eau de Cologne roch nach süßem Moschus.
„Du siehst blendend aus“, sagte er und ließ seine Augen über ihre Figur wandern. Falls er sah, dass sie an Gewicht zugelegt hatte, ließ er sich nichts anmerken. Möglicherweise überlegte er sich jedoch, welche Wirkung dies neben dem Pool des Country Clubs hätte und wie ein kleiner Wulst über den Bikinistreifen die komplexe Formel seiner gesellschaftlichen Stellung beeinflussen könnte. Eine reizende Begleiterin sollte keine Süßigkeiten essen, jedenfalls nicht zu viele.
„Du siehst perfekt aus, wie üblich“, sagte sie.
„Ich gebe mir Mühe“, sagte er.
Das kannst du laut sagen . Eine weitere Qualität von Mitchell: Für einen Anwalt war er ziemlich ehrlich.
„Hast du etwas zum Fall meines Vaters herausgekriegt?“ fragte sie.
„Ein wenig, aber kann das nicht warten? Ich habe eine Reservation im Restaurant ‚The Blue Note‘ und das war keine einfache Sache, das kann ich dir sagen. Sogar Mitchell Austin muss Schmiergeld bezahlen, um in dieser Stadt einen anständigen Platz zu erhalten.“
Nun spricht er schon von sich in der dritten Person. Die Mächtigen scheinen in ihrer Abwesenheit noch höher gestiegen zu sein.
Er zeigte auf ihre Hand. „He, wo ist der Stein?“
Sie überdachte die kurze Liste der Lügen. „Ich habe kurz vor der Abreise den Ofen gereinigt und ich wollte nicht, dass er Flecken erhielt. Ich war so in Eile, dass ich vergessen habe, ihn wieder anzuziehen.“
„Um Gottes willen, Julia, weißt du, wie viel der gekostet hat?“
Nach ihrer Vermutung lag dies im Bereich einer fünfstelligen Zahl. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie jedoch nur. „Er befindet sich an einem sicheren Ort.“
„Du hast doch keine Zweifel?“
Das Lügen fiel ihr mit der Zeit leichter und sie servierte ihm einen seiner Lieblingsausdrücke. „Nein, Mitchell. Ich halte mich an den Plan.“
Er lächelte mit dem Mund, jedoch nicht mit den Augen. Er nahm sie bei der Hand und steuerte auf die Gepäckrückgabe zu.
Sie nahmen ein Taxi in das Zentrum der Stadt. Julia starrte die Wolkenkratzer wie eine Touristin an, während Mitchell den Arm besitzergreifend um sie legte. Er half ihr beim Aussteigen, als das Fahrzeug am Straßenrand hielt. Die schwüle Luft auf dem Gehsteig umschloss Julia wie eine zweite Haut. Die Abgase, der
Weitere Kostenlose Bücher