Der Schakal
Kardinalerzbischof von Paris zelebrierte, flankiert von Prälaten und anderen Geistlichen, die beim Anlegen ihrer Gewänder ausnahmslos überwacht worden waren, die heilige Messe. Auf der Orgelempore hockten zwei mit geladenen Karabinern bewaffnete Männer, von deren Anwesenheit selbst der Erzbischof nichts wußte, und behielten die unten im Kirchenschiff versammelte Menge im Auge. Unter die Andächtigen hatten sich zahllose Polizeibeamte in Zivil gemischt, die zwar nicht knieten und die Augen schlössen, aber ebenso inständig wie die Gläubigen ihre Gebete das alte Polizistengebet beteten: »O Herr, gib, daß es nicht geschieht, wenn ich Dienst habe.«
Draußen wurden mehrere Zuschauer, obwohl sie zweihundert Meter vom Portal der Kathedrale entfernt standen, kurzerhand abgeführt, weil sie in ihre Taschen gegriffen hatten. Einer hatte sich unter dem Arm gekratzt, ein anderer seine Zigarettenpackung hervorholen wollen.
Und noch immer geschah nichts. Von keinem Hausdach knallte ein Gewehrschuß, auch krachte keine Bombe. Die Polizisten kontrollierten sich sogar gegenseitig und vergewisserten sich ständig, ob ihre Kollegen auch das Abzeichen auf dem Revers ihrer Uniformjacken trugen, das jeder von ihnen erst an diesem Morgen erhalten hatte, damit der Schakal es sich nicht noch beschaffen oder anfertigen lassen und sich als Polizist kostümieren konnte. Ein CRS-Mann, der sein Abzeichen verloren hatte, wurde auf der Stelle festgenommen und in einen wartenden Polizeiwagen verfrachtet. Man nahm ihm die Maschinenpistole ab, und es wurde Abend, ehe man ihn wieder freiließ - und das auch nur, nachdem insgesamt zwanzig seiner Kollegen ihn persönlich identifiziert und sich für ihn verbürgt hatten.
In Montvalérien erreichte die Spannung dann ihren Höhepunkt. Ob der Präsident sie überhaupt zur Kenntnis nahm, muß dahingestellt bleiben; falls ihm etwas auffiel, ließ er sich doch nichts anmerken. Die Sicherheitsbeamten schätzten, daß dem General, solange er sich in dem zur Gedenkstätte umgewandelten Beinhaus aufhielt, keine Gefahr drohe, daß dagegen die durch die engen Straßen dieses Arbeiterviertels führende Anfahrt zu dem alten Gefängnisbau, bei der die Wagenkolonne vor jeder Straßenecke die Fahrt verlangsamen mußte, dem Mörder sehr wohl Gelegenheit zu dem geplanten Attentatsversuch bieten würde.
Der Schakal befand sich zu jenem Zeitpunkt ganz woanders.
Pierre Valremy hatte die Nase voll. Ihm war heiß, die verschwitzte Uniformbluse klebte ihm am Rücken, an der Schulter scheuerte ihm der Gurt des umgehängten Schnellfeuerkarabiners durch den groben Stoff der Bluse hindurch die Haut wund, er hatte Durst, und auf das Mittagessen mußte er zu all dem auch noch verzichten. Er begann es zu bereuen, dem CRS jemals beigetreten zu sein.
Dabei hatte alles so rosig ausgesehen, als er unter Hinweis auf die Notwendigkeit zu personellen Einsparungsmaßnahmen aus der Fabrik entlassen worden war und ihn der Mann auf dem Arbeitsamt auf das Plakat an der Wand hinwies, das einen strahlenden jungen Mann in der Uniform des CRS zeigte, der aller Welt beteuerte, einen interessanten Job mit Aufstiegsmöglichkeiten und der Aussicht auf ein abenteuerliches Leben gefunden zu haben. Die Uniform auf dem Bild sah aus, als sei sie von Balenciaga persönlich maßgeschneidert. Kurz entschlossen hatte Valremy unterschrieben.
Vom Leben in der Kaserne, die wie ein Gefängnis aussah und in der Tat einst genau das gewesen war, hatte ihm keiner etwas erzählt. Auch nicht vom ewigen Drill oder von den häufigen Nachtübungen und ebensowenig von dem kratzenden Serge der Uniformbluse und dem stundenlangen Herumstehen an Straßenecken, wo er bei bitterer Kälte wie bei sengender Hitze auf den »großen Fang« gewartet hatte, der niemals kam. Die Papiere der Leute waren immer in Ordnung, und das genügte, um einen in den Suff zu treiben.
Und jetzt diese Reise nach Paris - das erste Mal in seinem Leben, daß er aus Rouen herausgekommen war. Er hatte gedacht, er bekäme etwas von der Stadt des Lichts zu sehen aber weit gefehlt. Das war nicht drin, nicht mit Sergeant Barbichet als Zugführer. Statt dessen nur das übliche, und davon sogar mehr als üblich.
»Die Absperrung da drüben, Valremy. Da stellen Sie sich jetzt hin und passen auf. Achten Sie darauf, daß die Leute die Barriere nicht wegschieben, und lassen Sie niemanden durch, der nicht dazu befugt ist, klar? Sie haben eine verantwortungsvolle Aufgabe.«
»Verantwortungsvoll« war
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