Der Schakal
gut. Mann, die drehten aber wirklich schon ganz schön durch wegen ihrer Pariser Befreiungsfeier. Schafften da Tausende von Soldaten aus der Provinz in die Stadt, um die Pariser Truppen zu verstärken. Männer aus zehn verschiedenen Städten waren letzte Nacht in seinem Quartier untergebracht gewesen, und die aus Paris hatten da so was von einem Gerücht läuten hören, daß irgeneiner von denen da oben glaubte, irgendwas würde noch passieren heute - weswegen denn auch sonst die ganze Aufregung? Na ja, waren ja alles bloß Gerüchte. Es passierte ja doch nie was.
Valremy drehte sich um und blickte die rue de Rennes hinauf. Die Barriere, die er bewachte, gehörte zu einer Reihe gleichartiger Sperrgatter, die sich etwa zweihundertfünfzig Meter vor dem Place du 18 Juin von Haus zu Haus quer über die Straße erstreckten. In seinem Rücken erhob sich das zweihundertfünfzig Meter jenseits des Platzes befindliche Bahnhofsgebäude, auf dessen Vorplatz die Feierstunde abgehalten werden sollte. Zum Bahnhof zurückblickend, konnte er dort eine Anzahl Männer die Plätze markieren sehen, auf denen die Kriegsveteranen, die in und ausländischen Würdenträger und die Musikkapelle der Garde Républicaine Aufstellung nehmen würden. Noch drei Stunden. Herrgott, wollte die Zeit denn gar nicht verstreichen?An den Sperrgattern begannen sich die ersten Zuschauer einzufinden.
Es gab eben Menschen, die eine sagenhafte Geduld hatten, dachte er. Das mußte man sich mal vorstellen — freiwillig bei dieser Hitze stundenlang zu warten, bloß um dreihundert Meter weit weg eine Menge Köpfe zu sehen und zu wissen, daß irgendwo mitten darunter Charles de Gaulle sein mußte. Und doch waren sie immer zur Stelle, wenn es hieß, er käme.
Es mochten inzwischen etwa hundert bis zweihundert Personen geworden sein, die einzeln und in Gruppen hinter der Absperrung standen, als er den alten Mann sah. Er kam die Straße hinuntergehumpelt, als würde er keine fünfhundert Meter mehr hinter sich bringen. Das schwarze beret war voller Schweißflecken, und der lange Militärmantel hing ihm lappig bis unter das Knie. Von seiner Brust baumelte eine Reihe leise klimpernder Medaillen. Tiefes Mitleid lag in den Blicken, mit denen einige der Leute hinter der Absperrung die jammervolle Gestalt bedachten.
Diese kauzigen Opas bewahrten doch immer noch ihre uralten Medaillen auf, als seien sie das einzige, was das Leben ihnen je beschert hatte, dachte Valremy. Na ja, vielleicht waren sie wirklich das einzige, was einige von ihnen noch besaßen. Besonders, wenn einem ein Bein abgeschossen worden war. Vielleicht hat er sich ja ein bißchen umgetan, als er noch jung war und zwei Beine hatte, auf denen er den Weibern nachlaufen konnte, sagte sich Valremy, während er den langsam heranhumpelnden alten Mann nicht aus den Augen ließ. Jetzt sah er aus wie die am Felsen zerschmetterte alte Seemöwe, die der CRS-Mann einmal am Strand von Kermadec gesehen hatte.
Menschenskind noch mal, das mußte man sich bloß mal vorstellen, wie das wäre, wenn man für den Rest seines Lebens auf einem Bein umherhumpelte und wie der da ohne seine Aluminiumkrücke keinen Schritt mehr vom Fleck käme.
Der Mann humpelte auf ihn zu.
»Je peux passer?« fragte er ängstlich.
»Na, dann zeigen Sie mir erst mal Ihren Ausweis, Opa.«
Der Veteran griff fahrig in die Brusttasche seines Hemdes, das dringend der Reinigung bedurft hätte. Er zog zwei Ausweiskarten hervor, die Valremy eingehend in Augenschein nahm. André Martin, französischer Staatsbürger, dreiundfünfzig Jahre alt, geboren in Colmar im Elsaß, wohnhaft in Paris. Die andere Karte war auf denselben Namen ausgestellt und »Mutilé de Guerre« Kriegsversehrter - überschrieben. Allerdings, dachte Valremy, erwischt hat's dich, und das nicht zu knapp.
Er betrachtete die Photos auf den beiden Ausweisen. Sie zeigten den gleichen Mann, waren aber zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen. Er blickte auf. »Nehmen Sie das beret ab.« Der alte Mann nahm die Mütze ab und knäuelte sie in der Hand zusammen. Valremy verglich das Gesicht vor ihm mit dem auf den Photos abgebildeten. Es war dasselbe. Der Mann, der vor ihm stand, sah krank aus. Er hatte sich beim Rasieren mehrfach geschnitten und das Blut mit kleinen Fetzen von Toilettenpapier, die auf den Schnittwunden klebten, zu stillen versucht. Sein Gesicht war grau und von einer fettigen Schweißschicht bedeckt. Über der Stirn stand das vom Abnehmen der Mütze
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