Der Schatten des Schwans
erlosch das Licht. Die Neu-Ulmer Kollegen würden ihr morgen sagen, wer dort oben wohnte.
In Ulm schaltete der Leitende Oberstaatsanwalt Müller-Köpf das ZDF ein. Es war kurz vor 19 Uhr, Müller-Köpf holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und dachte befriedigt an das Telefongespräch mit dem Staatssekretär. Schlauff hatte ihm volle Anerkennung für die umsichtige Behandlung der Anzeige Berndorf ausgesprochen und versichert, dass auch von Seiten der sächsischen Polizei keine weiteren Ermittlungen erfolgen würden.
Die Nachrichten lohnten das Anhören nicht, fand Müller-Köpf. Er verabscheute Parteiengezänk und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, was er sich nur abends und allein erlaubte.
Als er die Flasche absetzte, erschien auf dem Bildschirm eine Fotografie, eine Porträtaufnahme, die ihm merkwürdig bekannt vorkam.
»Schwere Vorwürfe gegen die deutsche Justiz und die baden-württembergische Landesregierung haben die Medien in Israel erhoben«, sagte die Nachrichtensprecherin. »Nach Angaben der Tageszeitung ›Jerusalem Post‹ lebt der frühere KZ-Arzt Dr. Hendrik Hendriksen unbehelligt unter einem falschen Namen als emeritierter Hochschulprofessor in der baden-württembergischen Universitätsstadt Ulm.«
Auf dem Bildschirm wurde die Aufnahme aus dem Tübinger Universitätslabor eingeblendet, auf der Hendriksen zusammen mit Remsheimer und Samnacher zu sehen war. Die Kamera zoomte auf Hendriksens Kopf und machte das charakteristische Profil sichtbar.
»Hendriksen soll im Dritten Reich für zahlreiche Menschenversuche verantwortlich gewesen sein«, fuhr die Sprecherin fort. »Fast alle Opfer dieser Versuche starben oder wurden ermordet, berichtet die israelische Tageszeitung. Unter seinem falschen Namen erfreue sich Hendriksen in Deutschland hoher wissenschaftlicher Anerkennung und sei unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet worden.«
Auf dem Bildschirm erschien das Foto, das Twienholt zusammen mit dem Kultusminister und dem Ulmer Oberbürgermeister zeigte.
»O Gott, nein«, sagte Müller-Köpf.
Mittwoch, 18. Februar
»Es besteht nicht der geringste Zweifel«, sagte Ministerialdirektor Rentz und blickte Berndorf durchdringend aus blaugrauen und leicht blutunterlaufenen Augen an, »nicht der Hauch eines Zweifels, dass die ausländischen Veröffentlichungen
zum Fall Hendriksen auf Material beruhen, das von Ihnen stammt.«
Berndorf war am Dienstag aus Israel zurückgekommen, und in seiner Post hatte er eine Vorladung des Personalchefs im Stuttgarter Innenministerium vorgefunden.
Jetzt saß er Rentz gegenüber. Zu seiner Verwunderung hatte der Ministerialdirektor keine Zeugen zu dem Gespräch gebeten.
»Ich werde mich in keiner Weise zu dieser Frage äußern«, sagte Berndorf. »Wenn es eine Frage ist.«
»Es ist keine«, antwortete Rentz. »Sie haben vertrauliche dienstliche Informationen aus einem schwebenden Verfahren, Amtsgeheimnisse also, an die Öffentlichkeit gegeben. Ich hoffe, dass Sie genügend Rechtskenntnis besitzen, um die strafrechtlichen Konsequenzen selbst abschätzen zu können.«
»Kein Kommentar«, sagte Berndorf. »Falls wir aber vom Fall Hendriksen sprechen: Der ist nach meinem Informationsstand kein schwebendes Verfahren. Oberstaatsanwalt Müller-Köpf hat es eingestellt.«
»Ich wiederhole: Es ist ein schwebendes Verfahren«, sagte Rentz eisig. »Inzwischen haben sich genügend Zeugen gemeldet, die den Arzt Hendriksen glauben identifizieren zu können. Es widerstrebt mir zwar, Ihnen Interna der Verwaltung mitzuteilen. Aber ich darf Ihnen doch sagen, dass der Minister und auch der Staatssekretär in geradezu außerordentlichem Maß erregt sind wegen der Verzögerung, mit der die wahre Identität des vorgeblichen Professors Twienholt aufgedeckt worden ist. Nur um Haaresbreite und unter äußerst peinlichen Umständen hat verhindert werden können, dass die Bundesministerin für Gesundheit unwissentlich einen ehemaligen Kriegsverbrecher mit Handschlag begrüßt.«
»Habe ich das richtig verstanden: Staatssekretär Schlauff ist wegen der Verzögerung – erregt?«, wollte Berndorf wissen.
»Ganz richtig«, sagte Rentz. »Er hat darauf bestanden, dass die Ermittlungen auch in der Sache Tiefenbach mit Hochdruck zu Ende zu bringen sind. Und zwar von Ihnen, um von keiner Seite einen irgendwie gearteten Zweifel aufkommen zu lassen. Deswegen, und nur deswegen, sehen wir auch davon ab, den Umständen der von mir eingangs erwähnten
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