Der Schatten erhebt sich
Selene? Nein, auf Lanfear, eine der Verlorenen?
Er stieß mit dem Rücken gegen etwas und blickte sich um. Da war nichts zu sehen. Eine Mauer aus nichts, gegen die er seinen Rücken preßte. Callandor glitzerte dahinter, keine drei Schritt entfernt, doch unerreichbar. Verzweifelt schmetterte er eine Faust gegen die Wand. Sie war unnachgiebig wie ein Felsen.
»Ich kann dir nicht voll vertrauen, Lews Therin. Noch nicht.« Sie kam näher und er überlegte, ob er sie einfach packen solle. Er war viel größer und stärker, und so abgeschirmt wie im Augenblick konnte sie ihn mit Hilfe der Macht verschnüren wie ein Kätzchen, das sich in ein Wollknäuel verstrickt hat. »Nicht, wenn du das da hast«, fügte sie hinzu und verzog das Gesicht beim Anblick Callandors. »Es gibt nur zwei noch mächtigere Dinge, die ein Mann benützen könnte. Von einem davon weiß ich, daß es auf jeden Fall noch existiert. Nein, Lews Therin. Soweit geht das Vertrauen noch nicht.« »Hör auf, mich so zu nennen«, grollte er. »Ich heiße Rand. Rand al'Thor.« »Du bist Lews Therin Telamon. Sicher, körperlich stimmt außer der Größe nichts überein, aber ich würde wissen, wer hinter diesen Augen steckt, und wenn ich dich in der Wiege vorfände.« Sie lachte plötzlich auf. »Um wie vieles leichter wäre alles gewesen, hätte ich dich damals gefunden. Wäre ich nur frei gewesen, und... « Das Lachen verflog und machte einem bösen Blick Platz. »Willst du mein wirkliches Aussehen genießen? Daran kannst du dich wohl auch nicht mehr erinnern, oder?« Er versuchte, nein zu sagen, doch seine Zunge rührte sich nicht. Einmal hatte er zwei der Verlorenen zusammen gesehen, Aginor und Balthamel, die ersten beiden, die sich wieder in Freiheit befanden nach dreitausend Jahren im versiegelten Kerker des Dunklen Königs. Der eine war geschrumpft und gealtert gewesen, wie etwas, das bestimmt nicht mehr am Leben sein konnte, und der andere hatte sein Gesicht hinter einer Maske verborgen, hatte jedes Fleckchen Haut verborgen, als könne er nicht ertragen, daß es jemand zu Gesicht bekäme.
Die Luft um Lanfear herum flimmerte, und sie veränderte sich. Sie war - ganz sicher älter als er, aber älter war nicht der richtige Ausdruck dafür. Reifer. Und wenn möglich, noch schöner als zuvor. Eine üppige Blüte verglichen mit einer Knospe. Obwohl ihm bewußt war, was sie war, trocknete sein Mund aus, und sein Hals war wie zusammengeschnürt.
Ihre dunklen Augen blickten forschend auf sein Gesicht. Der Blick war voller Stolz, und doch lag die Andeutung einer Frage darin, was er wohl sehen mochte. Was sie bei ihm auch wahrnahm, schien sie zufriedenzustellen. Sie lächelte wieder. »Ich war in einem tiefen, traumlosen Schlaf gefangen, in dem sich die Zeit nicht mehr bemerkbar machte. Die Drehungen des Rads haben mich nicht mehr betroffen. Nun siehst du mich, wie ich wirklich bin, und ich habe dich in der Hand.« Sie fuhr mit einem Fingernagel an seiner Kinnpartie entlang - so hart, daß er zusammenzuckte. »Die Zeit der Spiele und des Zurückziehens ist vorbei, Lews Therin. Lange vorbei.« Sein Magen rebellierte. »Willst du mich nun also töten? Das Licht soll dich versengen, ich... « »Dich töten?« rief sie ungläubig. »Dich töten? Ich will dich haben, und zwar für immer! Du hast mir gehört, lange bevor diese Schlampe mit den hellen Haaren dich mir stahl. Bevor sie dich je erblickt hatte. Du hast mich geliebt!« »Und du liebtest die Macht!« Einen Augenblick lang war er wie vor den Kopf geschlagen. Die Worte klangen vollkommen wahr - er wußte, daß sie stimmten - aber woher waren sie gekommen?
Selene - Lanfear - schien genauso überrascht wie er, aber sie erholte sich schnell. »Du hast viel gelernt und mehr getan, als ich dir ohne jede Hilfe zugetraut hätte, aber du stolperst immer noch im Dunkeln durch ein Labyrinth, und dein Unwissen könnte dich umbringen. Einige der anderen fürchten dich zu sehr, um noch lange warten zu wollen. Sammael, Rahvin, Moghedien. Andere vielleicht auch, aber diese drei auf jeden Fall. Sie werden dich verfolgen. Sie werden nicht erst versuchen, dich zu überzeugen und zu gewinnen. Sie werden sich anschleichen und dich im Schlaf töten. Weil sie dich fürchten. Aber es gibt auch solche, die dir vieles beibringen würden, damit du wieder lernst, was du einst wußtest. Dann würde niemand mehr wagen, sich dir in den Weg zu stellen.« »Mir beibringen? Du willst, daß mir einer der Verlorenen Unterricht erteilt?«
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