Der Schatten erhebt sich
Abends hatten allem noch größere Dringlichkeit verliehen. Wenn Schattenwesen den Stein angriffen, wenn eine der Verlorenen plötzlich mitten unter ihnen auftauchte, dann konnte sie sich nicht ihrer Angst einfach hingeben. Sie mußten erfahren, was zu tun sei. Sie mußten noch weitere Informationen haben außer Amicos vager Erzählung. Irgend etwas. Wenn sie nur erfahren könnte, wo genau sich Mazrim Taim unterwegs nach Tar Valon befand, oder wenn sie nur irgendwie in die Träume der Amyrlin hineinschlüpfen könnte, um mit ihr zu sprechen. Vielleicht war so etwas für einen Träumer möglich. Falls ja, dann wußte sie allerdings nicht, wie. Also mußte sie sich Tanchico widmen.
»Ich muß allein gehen, Aviendha. Ich muß.« Sie hielt ihren Tonfall für ruhig und gleichmäßig, doch Elayne tätschelte ihre Schulter beruhigend.
Egwene wußte nicht, warum sie überhaupt den Stadtplan anstarrte. Sie hatte ihn bereits genau im Kopf, selbst die Größenverhältnisse. Was in dieser Welt existierte, existierte auch in der Welt der Träume. Sie hatte ihr Ziel gewählt. Sie blätterte in dem Buch, bis sie den einzigen Stich vom Innern eines Gebäudes fand, das auf dem Plan als der Palast der Panarchen bezeichnet wurde. Es wäre nicht gut, sich in irgendeinem Saal wiederzufinden, von dessen Lage in der Stadt sie keine Ahnung hatte. Sicher, es konnte sein, daß sowieso alles umsonst war. Doch den Gedanken verdrängte sie schnell wieder. Sie mußte einfach daran glauben, daß etwas dabei herauskommen könne.
Der Stich zeigte einen großen Saal mit hoher Decke. Ein an hüfthohen Pfosten befestigtes Seil hielt die Menschen davon ab, den Dingen zu nahe zu kommen, die auf Tischchen und in Vitrinen an den Wänden ausgestellt waren. Die meisten Ausstellungsstücke waren nur undeutlich zu erkennen, bis auf das, was sich am hinteren Ende des Saals befand. Der Künstler hatte sich große Mühe gegeben, das massive Skelett, das dort stand, so genau wiederzugeben, als sei der Rest des Geschöpfes erst vor einem Augenblick verschwunden. Es hatte vier Beine mit mächtigen Knochen, doch ansonsten ähnelte es keinem Tier, das Egwene je gesehen hatte. Es mußte unter anderem mindestens zwei Spannen hoch sein, also mehr als doppelt so groß wie sie. Der abgerundete Schädel, der tief zwischen den Schultern lagerte wie bei einem Stier, sah groß genug aus, daß ein Kind hineinklettern konnte, und auf dem Bild schien er vier Augenhöhlen aufzuweisen. Dieses Skelett war ein so deutliches Kennzeichen, daß sie den Saal wohl kaum mit einem anderen verwechseln konnte. Was es auch gewesen sein mochte: falls Eurian Romavni es gekannt hatte, hatte er es in diesem Buch jedenfalls nicht erwähnt.
»Was ist eigentlich ein Panarch?« fragte sie, als sie das Buch zur Seite legte. Sie hatte dieses Bild schon ein dutzendmal betrachtet. »All diese Schreiber scheinen zu glauben, daß jeder darüber Bescheid weiß.« »Die Panarchin von Tanchico ist an Einfluß und Macht dem König gleichgestellt«, zitierte Elayne. »Sie ist dafür verantwortlich, daß Steuern, Zölle und andere Abgaben eingetrieben werden, während er sie ausgeben darf. Sie befehligt die Miliz und die Gerichte, außer dem Höchsten Gerichtshof, der dem König untersteht. Das Heer untersteht natürlich auch ihm, abgesehen von der Legion der Panarchin. Sie... « »Das wollte ich nicht so genau wissen«, seufzte Egwene. Sie hatte einfach nur irgend etwas sagen wollen, noch ein paar Minuten vertrödeln, bevor sie einschlafen mußte. Die Kerze brannte langsam herunter, und sie verschwendete vielleicht wertvolle Zeit. Sie wußte, wie sie aus dem Traum entkommen und sich selbst aufwecken konnte, aber in der Welt der Träume verlief die Zeit eben doch anders, und es konnte leicht passieren, daß man jedes Zeitgefühl verlor. »Sobald sie die Markierung erreicht«, sagte sie noch einmal, und Elayne und Nynaeve murmelten beruhigende Worte.
Sie legte sich auf ihr Federkissen zurück und starrte zuerst nur die Decke an, auf die blauer Himmel mit Wolken und fliegenden Schwalben gemalt war. Die bemerkte sie jedoch gar nicht.
Ihre Träume waren in letzter Zeit schon schlimm genug gewesen. Rand kam natürlich immer wieder darin vor. Rand, so groß wie ein Berg, der durch Städte marschierte, Gebäude unter seinen Füßen zermalmte und vor dem schreiende Menschen von Ameisengröße flohen. Rand in Ketten, und diesmal war er es, der schrie. Rand, der eine Mauer baute. Er befand sich auf der einen und sie
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