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Der Schatten erhebt sich

Der Schatten erhebt sich

Titel: Der Schatten erhebt sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jordan
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alles mußte sie lernen, falls sie der erste Träumer der Burg seit Coreanin werden wollte.
    Sie betrachtete den riesigen Schädel ein wenig genauer. Sie war ja auf dem Land aufgewachsen und wußte, wie Tierknochen aussahen. Es waren doch keine vier Augenhöhlen. Zwei der Löcher schienen statt dessen einst Stoßzähne gehalten zu haben, und zwar auf jeder Seite der Nase einen. Vielleicht war es eine Art ungeheuer großer Keiler gewesen, obwohl das eigentlich nicht wie die Schweineschädel aussah, die sie kannte. Jedenfalls schien das Skelett alt, uralt sogar.
    Hier und von der Macht erfüllt war sie in der Lage, so etwas zu spüren. Natürlich waren all ihre Sinne unter dem Einfluß der Macht geschärft. Sie spürte die winzigen Risse in den vergoldeten Gipsplatten an der Decke fünfzig Fuß über ihr genau wie die Glätte des weißen Steinbodens. Auch die Fußbodenplatten wiesen haarfeine, unsichtbare Risse auf.
    Der Saal war riesig groß - vielleicht zweihundert Schritt lang und beinahe halb so breit. Reihen schlanker weißer Säulen zogen sich hindurch, und überall war die Außenseite mit diesem weißen Seil abgesperrt, außer dort, wo sich die hohen Doppelbogentüren befanden. Auch im Innern noch zogen sich weitere Seile um Holzregale und Vitrinen mit Ausstellungsstücken. Oben unter der Decke wies der Saal statt Fenstern rundherum kunstvoll durchbrochene Stuckarbeiten auf, die reichlich Licht durchließen. Offensichtlich hatte sie sich in ein Tanchico hineingeträumt, in dem es gerade heller Tag war.
    ›Eine großartige Ausstellung von Artefakten aus vergangenen Zeitaltern, aus dem Zeitalter der Legenden und noch früheren, für alle, auch für die einfachen Menschen, dreimal im Monat und an Festtagen geöffnet‹, hatte Eurian Romavni geschrieben. Er hatte in glühenden Farben die unglaublich kostbare Sammlung von Cuendillar-Figurinen beschrieben. Es waren sechs, die in einer Glasvitrine genau in der Mitte des Saals aufbewahrt und immer von vier Mann aus der Leibgarde der Panarchin bewacht wurden, wenn der Eintritt gestattet war. Dann hatte er weitere zwei Seiten lang geschwärmt von den Skeletten sagenhafter Tiere, ›die von Menschenaugen niemals lebendig gesehen wurden‹. Egwene konnte nun ein paar davon betrachten. An der einen Seite des Saals stand das Skelett eines Tiers, das ein wenig an einen Bären erinnerte, wenn es auch zwei unterarmlange Schneidezähne aufwies, und gegenüber auf der anderen Seite stand das Knochengerüst eines schlanken vierbeinigen Huftiers, dessen Hals so lang war, daß sich der Schädel oben auf halbem Weg zur Decke befand. Es gab noch mehr in regelmäßigen Abständen an den Wänden des Saals, und die anderen waren genauso phantastisch. Alle verströmten eine derartige Aura des Alters, daß der Stein von Tear dagegen wie ein Neubau wirkte. Sie bückte sich und schlüpfte unter dem Seil durch. Dann schlenderte sie mit großen Augen weiter durch den Saal.
    Da stand eine verwitterte kleine Statue einer Frau, anscheinend unbekleidet, doch in langes Haar gehüllt, das ihr bis auf die Knöchel herunter reichte, die sich äußerlich kaum von den anderen in ihrer Vitrine unterschied. Jede war nicht viel größer als ihre Hand. Aber diese eine vermittelte einen Eindruck von sanfter Wärme, den sie erkannte. Es war ein Angreal, da war sie sicher. Sie fragte sich, warum die Burg ihn der Panarchin nicht abgekauft hatte. Ein fein gearbeiteter Halsring und zwei Armringe aus stumpfem schwarzen Metall auf einem eigenen Ständer ließen sie schaudern. Sie spürte, daß Dunkelheit und Schmerz damit verbunden waren - alter, alter und doch scharfer Schmerz. In einem anderen Schaukasten lag ein silbriger Gegenstand wie ein dreizackiger Stern innerhalb eines Rings. Er bestand aus keiner ihr bekannten Substanz, weicher als Metall, verkratzt und mit tiefen Rillen, und er war sogar noch älter als die ältesten der Skelette. Aus zehn Schritt Entfernung konnte sie noch Stolz und Eitelkeit darin fühlen.
    Ein Gegenstand kam ihr tatsächlich bekannt vor, obwohl sie nicht wußte, woher. Man hatte ihn in die äußerste Ecke einer Vitrine gesteckt, als sei der, der ihn dorthin gelegt hatte, nicht von seinem Wert überzeugt gewesen. Da lag also die obere Hälfte einer aus glänzend weißem Stein gearbeiteten Frauenfigur, die in einer gehobenen Hand eine Kristallkugel trug. Ihr Gesicht war voller Ruhe, Würde und weiser Autorität. In vollständigem Zustand wäre sie wohl einen Fuß hoch gewesen. Aber

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