Der Schatten erhebt sich
wenn ihnen ihre Träume echt erschienen. Sie waren ja auch echt. In der Unsichtbaren Welt war das, was geschah, auf seltsame Art wirklich. Nichts von dem, was dort geschah, beeinflußte die Wirklichkeit an sich. Eine Tür, die man in der Welt der Träume öffnete, blieb in der Welt der Wirklichkeit deshalb immer noch geschlossen, und ein Baum, der dort gefällt wurde, stand hier nach wie vor, doch konnte es passieren, daß eine Frau dort getötet oder durch unglückliche Umstände einer Dämpfung unterzogen wurde. ›Seltsam‹ drückte kaum aus, was sich dort abspielte. In der Unsichtbaren Welt lag die Gesamtheit der Welten offen und vielleicht auch noch andere Welten dazu; man konnte jeden beliebigen Ort erreichen. Oder zumindest dessen Spiegelbild in der Welt der Träume. Dort konnte man das Gewebe des Musters erkennen -Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - wenn man wußte, wie. Ein Träumer konnte das. Es hatte in der Weißen Burg keinen Träumer seit Coreanin Nedeal vor etwa fünfhundert Jahren mehr gegeben.
Um genau zu sein, vor vierhundertdreiundsiebzig Jahren, dachte Egwene. Oder sind es jetzt schon vierhundertvierundsiebzig? Wann ist Coreanin gestorben? Falls Egwene eine Gelegenheit bekam, ihre Ausbildung in der Burg zu beenden, als Aufgenommene dort weiterzustudieren, würde sie es vielleicht erfahren. Es gab soviel, was sie dann erfahren konnte.
In Egwenes Beutel, in dem sie den Ter'Angreal aufbewahrte, steckte auch eine Liste, klein genug, um sie in jeder Tasche unterzubringen. Darauf stand alles, was die Schwarzen Ajah bei ihrer Flucht aus der Burg gestohlen hatten. Alle drei besaßen sie eine Abschrift davon. Bei dreizehn der gestohlenen Ter'Angreal war ›kein bekannter Zweck‹ eingetragen, und dazu: ›zuletzt von Coreanin Nedeal untersucht‹. Aber wenn Coreanin Sedai schon ihre Anwendung nicht herausbekommen hatte, dann war sich Egwene zumindest in einer Hinsicht sicher. Sie verschafften einem Eintritt in Tel'aran'rhiod; vielleicht nicht so leicht wie ihr Steinring und vielleicht auch nur unter Anwendung der Macht, aber immerhin.
Zwei hatten sie Joiya und Amico wieder abgenommen: eine eiserne Scheibe von einer Handbreit Durchmesser, in die man auf beiden Seiten eine enge Spirale eingraviert hatte, und eine Spange, nicht länger als ihre Hand, die anscheinend aus reinem Bernstein bestand, doch hart genug war, um selbst auf Stahl Kratzer zu hinterlassen. Trotzdem war irgendwie eine schlafende Frau eingraviert worden. Amico hatte sich freimütig dazu geäußert und Joiya schließlich auch, allerdings erst nach einer Sitzung allein in ihrer Zelle mit Moiraine, nach der die Schwarze Schwester blaß und mit beinahe höflichen Umgangsformen zurückgeblieben war. Wenn man ein kleines Rinnsal der Macht in jeden dieser Ter'Angreal lenkte, dann schläferte er einen ein und man befand sich in Tel'aran'rhiod. Elayne hatte beide kurz ausprobiert, und es hatte funktioniert, obwohl sie dort lediglich das Innere des Steins gesehen hatte und Morgases Königspalast in Caemlyn.
Egwene hatte nicht gewollt, daß sie die beiden ausprobierte, und wenn es auch nur für einen kurzen Besuch war, doch nicht aus Eifersucht. Allerdings hatte sie auch nicht sehr eindeutig erklären können, warum sie es nicht wünschte, denn sie fürchtete, Elayne und Nynaeve würden den furchtsamen Unterton in ihrer Stimme bemerken und verstehen.
Zwei zurückgewonnen bedeutete, daß die Schwarzen Ajah immer noch elf in ihrem Besitz hatten. Das war es, was Egwene hatte betonen wollen. Elf Ter'Angreal in der Hand der Schwarzen Schwestern, und jeder davon konnte eine Frau nach Tel'aran'rhiod bringen. Wenn Elayne ihre kurzen Abstecher in die Unsichtbare Welt unternahm, konnte sie durchaus dort Schwarze Ajah antreffen, die auf sie gewartet hatten, oder über eine stolpern, bevor sie es bemerkte. Bei dem Gedanken verkrampfte sich Egwenes Magen. Sie konnten ja auch jetzt auf sie warten. Es war nicht wahrscheinlich, und sicher wäre es auch keine Absicht, denn sie konnten kaum wissen, daß sie kommen werde, doch sie konnten durchaus dasein, wenn sie hindurchtrat. Sie konnte schon mit einer fertigwerden, wenn sie nicht gerade überrascht wurde, und das würde sie zu verhindern wissen. Aber wenn sie wirklich vollkommen überraschend auftauchten? Zwei oder drei zusammen? Liandrin und Rianna, Chesmal Emry und Jeane Caide und all die anderen zugleich?
Sie blickte finster den Stadtplan an und entspannte ihre verkrampften Hände. Die Ereignisse dieses
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