Der Schatten erhebt sich
und der Boden versengte ihre bloßen Fußsohlen.
Einen Augenblick lang stand sie mit offenem Mund völlig ungläubig da und tanzte von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, daß man bei jemand anderem Änderungen vornehmen könne. Es gab so viele Möglichkeiten, so viele Regeln, die sie noch nicht kannte. In hektischer Eile dachte sie sich feste Schuhe und das dunkle Kleid mit dem Hosenrock an den Körper und ließ gleichzeitig die Kleider der Aielfrau verschwinden. Um das fertigzubringen, mußte sie Saidar benützen. Die Frau hatte sich wohl ganz darauf konzentriert, Egwene nackt zu halten. Nun hielt sie einen Strang der Macht bereit, um den Speer im Notfall zu packen, falls die andere Frau Anstalten machte, ihn zu werfen.
Nun war die Aielfrau mit dem Staunen an der Reihe. Sie ließ den Speer zur Seite sinken, und den Augenblick nützte Egwene, um die Augen zu schließen und sich nach Tanchico zurückzuträumen, zu dem riesigen Skelett im großen Saal. Diesmal schaute sie gar nicht mehr weiter hin. Sie hatte Dinge langsam satt, die zuerst wie Keiler aussahen und dann doch wieder nicht. Wie hat sie das fertiggebracht? Nein! Ich komme immer wieder vom Weg ab, weil ich mir über das Wie und Warum Gedanken mache. Diesmal gehe ich einfach weiter.
Und trotzdem zögerte sie. In dem Moment, als sie die Augen geschlossen hatte, schien es ihr, als habe sie eine andere Frau hinter der Aielfrau bemerkt, die sie beide beobachtete. Ein Frau mit goldenem Haar, die einen silbernen Bogen in der Hand hielt. Jetzt läßt du aber deine Phantasie mit dir durchgehen. Du hast dir wohl schon zu viele von Thoms Legenden angehört. Birgitte war schon lange tot. Sie konnte nicht wiederkehren, bis das Horn von Valere sie aus dem Grab zurückrief. Tote Frauen, selbst wenn sie legendäre Heldinnen gewesen waren, konnten sich nicht in Tel'aran'rhiod hineinträumen.
Die Unterbrechung dauerte allerdings wirklich nur einen Augenblick. Dann beendete sie diese nutzlose Spekulation und rannte zum Vorplatz zurück. Wieviel Zeit hatte sie noch übrig? Die ganze Stadt mußte sie absuchen, die Zeit verrann ihr unter den Fingern, und sie wußte immer noch nicht mehr als zu Beginn. Wenn sie nur einen blassen Schimmer davon hätte, wonach sie suchen mußte. Oder wo. Hier in der Welt der Träume schien das Laufen sie nicht soviel Kraft zu kosten wie zu Hause, doch so schnell sie auch lief, sie würde niemals die ganze Stadt durchforschen können, bevor Elayne und Nynaeve sie wieder aufweckten. Sie wollte auch möglichst nicht wieder hierher zurückkehren müssen.
Plötzlich erschien eine Frau mitten in dem Taubenschwarm, der sich auf dem Vorplatz versammelt hatte. Ihr Gewand war blaßgrün, dünn und so eng anliegend, daß sich Berelain wohl auch darin wohlgefühlt hätte. Das dunkle Haar hatte sie zu Dutzenden von dünnen Zöpfen zusammengeflochten, und ihr Gesicht war bis zu den Augen von einem durchsichtigen Schleier verdeckt, dem Haarnetz ähnlich, das der fallende Mann getragen hatte. Die Tauben flatterten auf, und die Frau flog mit ihnen hoch über die Hausdächer, bevor sie mit einem Schlag verschwand.
Egwene lächelte. Sie träumte die ganze Zeit davon, wie ein Vogel fliegen zu können, und das hier war ja schließlich ein Traum. Sie sprang in die Luft und flog weiter hoch auf die Dächer zu. Erst schwankte sie bei dem Gedanken daran, wie lächerlich das war - fliegen? Menschen können nicht fliegen! -, doch dann stabilisierte sich ihr Flug wieder, als sie sich zu mehr Selbstvertrauen zwang. Sie hatte es geschafft, und mehr war nicht zu sagen. Es war ein Traum, und sie konnte fliegen. Der Wind kühlte ihr Gesicht, und sie hätte am liebsten vor Begeisterung laut gelacht.
Sie überflog den Kreis der Panarchen. Von der Mauerkrone aus zogen sich Reihen von Steinbänken herunter bis zu einer breiten Manege im Mittelpunkt. Sie stellte sich das von Menschen gefüllt vor, wie sie ein Feuerwerk bestaunten, das die Gilde der Feuerwerker dort veranstaltete. Zu Hause waren Feuerwerke ein höchst seltenes Vergnügen. Sie erinnerte sich an die wenigen, die sie in ihrem Leben in Emondsfeld gesehen hatte. Die Erwachsenen hatten genauso aufgeregt gestaunt wie die Kinder.
Sie segelte wie ein Falke über die Dächer, über Paläste und Herrenhäuser, über einfache Wohnhäuser und Geschäfte, Lagergebäude und Stallungen. Sie glitt an Kuppeln mit goldenen Spitzen und bronzenen Wetterhähnen vorbei, an Türmen mit beinahe
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