Der Schatten erhebt sich
das breite, unsymmetrische Becken des Hafens von Cantorin hinweg. Ihr Kopf war auf beiden Seiten glattrasiert, so daß nur in der Mitte ein übriggebliebener Streifen schwarzen Haares bis auf ihren Rücken fiel. Ihre Hände ruhten entspannt auf dem glatten Stein eines Geländers, das genauso jungfräulich weiß war wie ihre Robe mit ihren Hunderten von glitzernden Pailletten. Als sie unbewußt mit ihren beeindruckend langen Fingernägeln auf das Geländer klopfte, konnte man ein rhythmisches Klicken hören. Die Nägel an den beiden ersten Fingern jeder Hand hatte sie blau lackiert.
Eine leichte Brise wehte vom Aryth-Meer her und führte in ihrer Kühle mehr als nur einen Hauch von Salzgeruch mit sich. Hinter der Hochlady knieten zwei junge Frauen an der Mauer und hielten Fächer mit großen, weißen Federn bereit, falls die Brise sich legen würde. Zwei weitere Frauen und vier junge Männer vervollständigten die Reihe der niedergekauerten Dienstboten, die bereit waren, jeden ihrer Aufträge augenblicklich auszuführen. Alle acht waren barfuß und trugen durchscheinende Gewänder, um den Sinn der Hochlady für das Schöne durch die Grazie ihrer Bewegungen und die weichen Linien ihrer Körper zu erfreuen. Im Augenblick bemerkte Suroth die Diener jedoch nicht einmal, so als seien sie vertraute Möbelstücke.
Die sechs Totenwächter jedoch, die an jedem Ende der Säulenreihe aufgestellt waren, bemerkte sie sehr wohl. Sie standen starr wie Statuen da und hielten ihre Speere mit den schwarzen Quasten und die schwarzlackierten Schilde.
Diese Wächter waren gleichzeitig Symbol ihres Triumphes und der Gefahr, in der sie sich befand. Die Totenwächter dienten ausschließlich der Kaiserin und ihren erwählten Vertretern, und sie würden mit gleicher Hingabe für sie töten oder sterben, was auch notwendig sein mochte. Es gab ein Sprichwort: »Hoch droben sind die Pfade mit Dolchen gepflastert.« Ihre Fingernägel klickten auf der Steinbrüstung. Wie rasiermesserscharf doch die Schneide war, auf der sie wandelte.
Schiffe der Atha'an Miere, des Meervolks, füllten den inneren Hafen hinter dem Deich. Selbst die größten von ihnen wirkten viel zu schmal für ihre Länge. Ihre Takelage war durchtrennt, und die Masten und Ladebäume standen in verrückten Winkeln ab. Die Decks waren leer. Die Besatzungen befanden sich an Land und unter Bewachung, so wie alle von diesen Inseln, die in der Lage waren, auf die hohe See hinauszusegeln. Im Außenhafen lagen an die zwanzig plumpe, kastenförmige Schiffe der Seanchan. Weitere ankerten direkt vor der Hafeneinfahrt. Eines, die gerippten Segel voll im Wind gebläht, begleitete einen Schwarm kleiner Fischerboote zum Inselhafen zurück. Falls die kleinen Boote sich zerstreuen sollten, könnten vielleicht einige entkommen, aber auf dem Seanchan-Schiff fuhr eine Damane mit, und eine einzige Demonstration ihrer Kräfte hatte genügt, um jeden Gedanken an Flucht zu unterbinden. Auf einer Schlammbank in der Nähe der Hafeneinfahrt lag immer noch der verkohlte, zerschmetterte Rumpf eines der Schiffe des Meervolks...
Suroth wußte nicht, wie lange sie die Tatsache, daß sie diese Inseln besetzt hielt, vor dem übrigen Meervolk und den verfluchten Festländern noch geheimhalten konnte. Lange genug, sagte sie sich. Es muß einfach ausreichen.
Sie hatte so etwas wie ein Wunder vollbracht, als sie die meisten Überlebenden der Seanchan-Streitkräfte nach dem Debakel, in das Hochlord Turak sie geführt hatte, um sich sammelte. Fast alle der aus Falme entkommenen Schiffe hatten sich ihrem Kommando unterstellt, und niemand machte ihr das Recht streitig, die Hailene, die Vorgänger, zu befehligen. Falls ihr Wunder anhielt, würde niemand auf dem Festland auf die Idee kommen, daß sie sich hier befanden. Sie warteten, um schließlich doch die Länder wiederzugewinnen, zu deren Rückeroberung die Kaiserin sie ausgesandt hatte, um die Corenne, die Rückkehr, auf diese Art zu erzwingen. Ihre Spione erkundeten bereits die Möglichkeiten. Es würde nicht notwendig sein, zum Hof der Neun Monde zurückzukehren und sich bei der Kaiserin für ein Versagen zu entschuldigen, das nicht einmal ihres war.
Der Gedanke daran, sich vor der Kaiserin entschuldigen zu müssen, brachte sie zum Zittern. Eine solche Entschuldigung kam immer einer Demütigung gleich und war gewöhnlich schmerzlich, aber was sie so erzittern ließ, war die Möglichkeit, daß ihr am Ende der Tod verwehrt wurde und sie gezwungen sein könnte,
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