Der Schatten erhebt sich
gekommen wärt, wäre er gestorben. Wenn Aan'allein nicht mitgekommen wäre, wärt Ihr gestorben. Wenn Ihr nicht durch die Ringe geht... « Sie brach ab, als hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
Egwene beugte sich aufmerksam vor. Moiraine mußte auch nach Rhuidean gehen? Doch die Aes Sedai schien keine Notiz davon genommen zu haben, und Seana übernahm schnell das Erklären, um Melaines Ausrutscher zu vertuschen.
»Es gibt keinen bestimmten, vorher festgelegten Weg in die Zukunft. Das Muster läßt manchmal das feinste Spitzengewebe wie Sackleinen aussehen oder wie einen verfilzten Faden. In Tel'aran'rhiod ist es möglich, einige der Webarten der Zukunft zu erkennen, aber eben nicht mehr als das.« Moiraine nippte an ihrem Wein. »Die Alte Sprache ist oft schwierig zu übersetzen.« Egwene sah sie verblüfft an. Die Alte Sprache? Was hatte das mit den Ringen, diesem Ter'Angreal zu tun? Aber Moiraine fuhr munter fort: »Tel'aran'rhiod bedeutet Welt der Träume oder auch die Unsichtbare Welt. Keines davon stimmt ganz genau; es ist in Wirklichkeit viel komplexer. Aan'allein: der Eine Mann, aber es heißt auch ›Der Mann, der ein ganzes Volk ist‹. Und man kann es noch auf zwei oder drei andere Arten übersetzen. Und dann all die Worte, die wir zum täglichen Gebrauch in unseren Wortschatz aufgenommen haben und an deren wirkliche Bedeutung in der Alten Sprache wir uns überhaupt nicht mehr erinnern. Behüter nennt man ›Gaidin‹, und das hieß einst ›Brüder der Schlacht‹. Aes Sedai bedeutete ›Diener aller‹. Und ›Aiel‹ hieß in der Alten Sprache ›hingebungsvoll‹. Noch stärker sogar; es schließt einen Eid ein, den man in sich trägt. Ich habe mich oft gefragt, welchem Ziel die Aiel so hingebungsvoll dienen.« Die Gesichter der Weisen Frauen schienen in diesem Augenblick wie aus Stein gemeißelt, aber Moiraine bohrte weiter: »Und dann ›Jenn Aiel‹. ›Die wirklich Hingebungsvollen‹, und wieder wird die ursprüngliche Bedeutung noch verstärkt. Vielleicht muß es heißen: ›Die einzigen wirklich dem Ziel ergebenen‹? Die einzigen echten Aiel?« Sie blickte die Weisen Frauen fragend an, als sei nichts gewesen. Keine sagte ein Wort.
Worauf wollte Moiraine hinaus? Egwene hatte nicht vor, ihre Chancen auf eine Ausbildung bei den Weisen Frauen durch die Aes Sedai gefährden zu lassen. »Amys, können wir jetzt über das Träumen sprechen?« »Heute abend ist noch Zeit genug dazu«, sagte Amys. »Aber... « »Heute abend, Egwene. Ihr mögt ja eine Aes Sedai sein, aber hier werdet Ihr wieder zur Schülerin. Ihr könnt im Augenblick noch nicht einmal zu Bett gehen, wenn Ihr es wünscht, und auch nicht leicht genug schlafen, um hinterher noch erzählen zu können, was Ihr gesehen habt. Wenn die Sonne untergeht, werde ich beginnen, Euch zu unterweisen.« Egwene duckte sich und spähte unter der Kante der Zeltplane hindurch. Aus dem tiefen Schatten des Zelts heraus wirkte das Sonnenlicht draußen um so greller. Hitzeschleier flimmerten in der Luft. Die Sonne stand noch nicht einmal auf halber Höhe der Berggipfel.
Plötzlich richtete sich Moiraine auf und griff nach hinten an ihr Kleid. Sie begann, es aufzuknöpfen. »Ich denke, ich muß den gleichen Weg gehen wie Aviendha«, sagte sie, und es war nicht als Frage gemeint.
Bair warf Melaine einen strengen Blick zu. Die junge Frau senkte daraufhin verschämt ihren Blick. Seana aber erwiderte resigniert: »Ihr hättet es nicht hören sollen. Aber nun ist es zu spät. Veränderungen. Einer, der nicht vom Blute ist, ging bereits nach Rhuidean, und nun folgt ihm noch jemand.« Moiraine hielt im Auskleiden inne. »Macht das einen Unterschied, daß es mir gesagt wurde?« »Vielleicht einen großen, vielleicht aber auch gar keinen«, meinte Bair zurückhaltend. »Oft weisen wir einen Weg, aber wir sprechen nicht darüber. Als wir sahen, daß Ihr durch die Ringe gehen würdet, wart immer Ihr es, die zuerst davon sprach, die ein Recht darauf zu haben behauptete, obwohl Ihr nicht vom Blute seid. Nun hat es eine von uns zuerst erwähnt. Dinge, die wir gesehen haben, ändern sich bereits jetzt. Wer weiß, was nun alles geschehen wird?« »Und was habt Ihr für den Fall gesehen, daß ich nicht gehe?« Bairs runzliges Gesicht war nach wie vor ausdruckslos, doch in ihren blaßblauen Augen stand Sympathie. »Wir haben Euch schon zuviel gesagt, Moiraine. Was eine Traumgängerin sieht, wird möglicherweise geschehen, aber es ist nicht sicher. Wer zuviel von der
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