Der Schatten erhebt sich
Zukunft weiß, wird in jedem Fall katastrophale Fehler begehen, entweder aus der sicheren Erwartung des Unvermeidlichen heraus, oder weil er mit aller Gewalt versucht, die Zukunft zu ändern.« »Die Ringe sind gnädig, denn die Erinnerungen an die Erlebnisse darin verblassen schnell«, sagte Amys. »Eine Frau erfährt einige Dinge - nur wenige allerdings -, die wirklich geschehen werden. Andere wird sie erst wiedererkennen, wenn sie vor der entsprechenden Entscheidung steht, und vielleicht noch nicht einmal dann. Das Leben besteht aus Unsicherheit und Kampf, Entscheidungen und Veränderungen. Eine Frau, die genau wüßte, wie ihr Leben ins Muster verwoben sein wird, so wie bei dem Teppich, den sie gerade knüpft, müßte das Leben eines Tieres führen. Falls sie nicht wahnsinnig würde. Die Menschheit wurde geschaffen für Unsicherheit und Kampf, für Entscheidungen und Veränderungen.« Moiraine lauschte ohne ein äußeres Anzeichen der Ungeduld, doch Egwene glaubte, die Aes Sedai müsse fast am Platzen sein. Sie war daran gewöhnt, Vorträge zu halten, nicht aber, Lektionen erteilt zu bekommen. Sie schwieg, als Egwene ihr aus dem Kleid half, und sagte auch nichts, bis sie schließlich nackt am Rand der Teppiche kauerte und den Abhang hinunter in Richtung der in Nebel gehüllten Stadt spähte. Dann sagte sie: »Laßt nicht zu, daß Lan mir folgt. Er wird es versuchen, wenn er mich sieht.« »Es wird, wie es wird«, antwortete Bair. Ihre dünne Stimme klang kalt und endgültig.
Nach einem Augenblick des Zögerns nickte Moiraine unwillig und schlüpfte aus dem Zelt, hinein in den gleißenden Sonnenschein. Sie fing sofort zu rennen an, barfuß den heißen Abhang hinunter.
Egwene verzog das Gesicht. Rand und Mat, Aviendha, jetzt auch Moiraine, und alle unterwegs nach Rhuidean. »Wird sie es... überleben? Wenn Ihr davon geträumt habt, müßt Ihr es doch wissen.« »Es gibt ein paar Orte in Tel'aran'rhiod, die man nicht betreten kann«, sagte Seana. »Rhuidean. Ein Ogier- Stedding. Und noch ein paar. Was dort geschieht, ist vor den Augen einer Traumgängerin verborgen.« Das war natürlich keine Antwort, denn sie konnten ja beobachtet haben, ob sie aus Rhuidean wieder zurückkam oder nicht. Aber eine bessere Antwort würde sie wohl nicht erhalten. »Also gut. Soll ich auch gehen?« Der Gedanke, das zu erleben, was hinter den Ringen lag, behagte ihr überhaupt nicht. Es wäre, als müsse sie noch einmal ihre Prüfung zur Aufgenommenen ablegen. Doch wenn die anderen alle gingen...
»Seid keine Närrin«, sagte Amys energisch.
»Wir haben dazu nichts vorhergesehen, was Euch betraf«, fügte Bair in milderem Tonfall hinzu. »Genauer gesagt, haben wir Euch überhaupt nicht gesehen.« »Und ich würde auch nicht zustimmen, wenn Ihr darum bittet«, ergänzte Amys. »Vier sind notwendig, um die erforderliche Genehmigung zu erteilen, und ich wäre dagegen. Ihr seid hier, um das Traumgehen richtig zu erlernen.« »Wenn das so ist«, sagte Egwene und lehnte sich bequem an ihr Kissen, »dann fangt an. Es muß doch etwas geben, was Ihr mir beibringen könnt, bevor die Sonne untergeht.« Melaine runzelte die Stirn, doch Bair schmunzelte. »Sie ist genauso eifrig und ungeduldig wie du, als du dich einmal zum Lernen entschlossen hattest, Amys.« Amys nickte. »Ich hoffe, der Eifer wird anhalten, aber die Ungeduld verschwinden - in ihrem eigenen Interesse. Hört mal, Egwene. Es wird vielleicht schwer für Euch, aber Ihr müßt vergessen, daß Ihr eine Aes Sedai seid, wenn Ihr -ach, Ihr seid nun unsere Schülerin -, wenn du richtig lernen willst. Du mußt zuhören, dich erinnern und das tun, was man dir aufträgt. Und was am wichtigsten ist: Du darfst Tel'aran'rhiod nicht mehr betreten, bis eine von uns dir die Erlaubnis gibt. Kannst du das akzeptieren?« Es würde ihr natürlich nicht schwerfallen, zu vergessen, daß sie eine Aes Sedai war, weil sie ja gar keine war. Ansonsten klang es ganz danach, wieder Novizin zu werden. »Ich kann es akzeptieren.« Sie hoffte, es habe nicht so geklungen, als hege sie Zweifel.
»Gut«, sagte Bair. »Ich werde dir jetzt einiges über die Traumgänger und Tel'aran'rhiod erklären, und zwar sehr allgemein. Wenn ich fertig bin, wirst du alles wiederholen, was du erfahren hast. Wenn du nicht alle Tatsachen wiederholen kannst, wirst du heute abend anstelle der Gai'schain das Geschirr abwaschen. Falls dein Gedächtnis so schlecht ist, daß du auch nach einer Wiederholung durch mich nicht alles
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