Der Schatten im Norden
Lord
Dingsbums und Gräfin von Soundso - könntest du nicht
heute Abend mitkommen und sie mir diskret zeigen?
Wenn es um Pferderennen oder auch Opiumhöhlen
ginge, würde ich mich zurechtfinden, aber die englische
Oberklasse ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Hast
du heute Abend schon etwas vor?«
»Nein. Ich würde gerne mitkommen. Meinst du, dass es
zu einer Schlägerei kommen könnte? Soll ich
vorsichtshalber einen Revolver mitnehmen?«
Frederick lachte. »Du scheinst dich ja mit
deinesgleichen auszukennen, mein Lieber«, sagte er.
»Wenn das bei Wohltätigkeitsveranstaltungen von
Aristokraten üblich ist, dann komm besser mit Kanone.
Aber wenn die Leute anfangen, mit Gegenständen zu
werfen, dann mache ich die Fliege, das habe ich
Mackinnon auch schon gesagt. «
In Lady Harboroughs Haus am Berkeley Square
drängten sich schon die Gäste, als die beiden jungen
Männer ankamen. Sie zeigten einem Lakaien ihre
Einladungskarten, zahlten den Eintritt und wurden dann
in einen Salon geführt, wo im Licht von Lampen und
Lüstern die Juwelen der Damen und die blütenweißen
Hemden der Herren strahlten. Durch große Flügeltüren
sah man in einen Ballsaal, wo ein kleines, von
Topfpalmen flankiertes Orchester Walzermelodien
spielte, die aber vom Lärm sich amüsierender
Aristokraten fast überdeckt wurden.
Charles und Frederick standen am Eingang zum
Ballsaal und nahmen sich Gläser mit Champagner, die
ihnen ein Diener präsentierte.
»Wer ist denn nun Lady Harborough?«, fragte
Frederick. »Ich nehme an, dass ich sie kennen sollte. «
»Die alte Schachtel mit der Lorgnette, die da drüben am
Kamin mit Lady Wytham redet«, sagte Charles. »Ich
frage mich, ob ihre Tochter auch da ist. Sie ist eine echte
Schönheit. « »Wessen Tochter?«
»Wythams Tochter. Das ist der Mann, der sich gerade
mit Sir Ashley Hayward, dem Rennstallbesitzer,
unterhält. « »Ah ja, Hayward kenne ich vom Sehen.
Letztes Jahr beim Wetten hat mir sein Pferd Grandee
zehn Pfund eingebracht. Das ist also Lord Wytham,
Kabinettsmitglied. «
Lord Wytham war ein hoch gewachsener, grauhaariger
Mann mit merkwürdig nervösem Gebaren; seine Augen
wanderten unruhig hin und her, er kaute seine Lippen,
und ab und zu führte er eine Hand zum Mund und
knabberte wie ein hungriger Hund an einem Finger.
In Lady Harboroughs Nähe saß schweigend das
Mädchen, von dem Charles vorhin gesprochen hatte. Um
Lady Mary Wytham - wo sonst? --- drängte sich eine
Schar junger Männer, die sich laut unterhielten, während
sie hin und wieder höflich lächelte, die meiste Zeit aber
nur mit gesenktem Blick, die Hände im Schoß gefaltet,
dasaß. Charles hatte Recht, sie war schön, obschon
Frederick, dem es bei ihrem Anblick für einen
Augenblick den Atem verschlug, fand, dass >schön<
eigentlich nicht der richtige Ausdruck war. Das Mädchen
war so liebreizend, so voller natürlicher Anmut, dass er
am liebsten seine Kamera geholt hätte. Nur hätte ein
Fotograf weder das zarte Korallenrot ihrer Wangen noch
die gazellenhafte Anmut in der Linie ihres Halses und
ihrer Schultern einfangen können. Außer vielleicht
Webster. Oder Charles.
Aber es musste schon eine merkwürdige Familie sein,
wenn Vater und Tochter die gleiche verhaltene
Verzweiflung zeigten. Auch Lady Wytham sah bedrückt
aus; sie war hübsch, ohne die Schönheit ihrer Tochter,
doch in ihren dunklen Augen lag der gleiche tragische
Zug. »Was weißt du über Wytham«, fragte er Charles.
»So viel: siebter Earl mit Stammsitz irgendwo an der
schottischen Grenze, Chef des Handelsministeriums ---
zumindest war er das einmal, doch ich glaube, Disraeli
hat ihn aus dem Kabinett geworfen. Lady Mary ist sein
einziges Kind; über die Familie seiner Frau ist mir nichts
bekannt. Tja, das ist eigentlich schon alles. Er ist
übrigens nicht der einzige Politiker unter den Gästen schau, da ist auch Hartington... «
Charles nannte noch ein halbes Dutzend weiterer
Namen, die alle, so vermutete Frederick, zu Mackinnons
Verfolgern gehören konnten. Doch immer wieder
ertappte er sich dabei, wie sein Blick zu Lady Marys
stiller, schlanker Gestalt zurückwanderte, die im weißen
Abendkleid auf dem Sofa neben dem Kamin saß. Die
beiden hatten noch Zeit für ein weiteres Glas
Champagner, dann wurde die Hauptattraktion des
Abends angekündigt. Durch die Flügeltüren des Ballsaals
konnte man ein weites Halbrund aus Stühlen erkennen,
die, in mehreren Reihen gestaffelt, vor der kleinen Bühne
aufgestellt waren. Den
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