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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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erreicht und der Kampf gewonnen war…
    Die Männer dämpften ihre Stimmen, obschon sie kaum fürchten mussten, belauscht zu werden; nur eine Hand voll Eingeweihter wusste von der Existenz des Raumes, und durch die getäfelten Wände drang kein Laut nach draußen.
    »Wer ist dieser Franzose?«
    »Er nennt sich Maurice du Gard, aber es darf bezweifelt werden, dass dies sein wirklicher Name ist. Sein Vater war Franzose, seine Mutter Amerikanerin, weshalb er in den Kolonien aufwuchs. Ich nehme an, dies erklärt seinen schlechten Geschmack bei der Auswahl seiner Kleidung.«
    »Es heißt, er wäre ein Medium…«
    »Er hat sich der Wahrsagerei verschrieben, so viel ist richtig. Manche glauben, dass er tatsächlich die Gabe hat, in die Zukunft zu sehen – andere halten ihn lediglich für einen Scharlatan, der die Gutgläubigkeit leichtfertiger Zeitgenossen für sich ausnutzt.«
    »Und Sie? Was denken Sie?«
    »Ich denke, dass er ein unwägbares Risiko darstellt, Wahrsager oder nicht. Kincaid vertraut ihm ebenso, wie ihr Vater es tat, und das bedeutet, dass er unseren Plänen früher oder später gefährlich werden könnte.«
    »Ich verstehe«, erwiderte der andere Gentleman, während er mit seiner beringten Hand die kleine vergoldete Truhe auf dem Tisch öffnete, ihr eine Zigarre entnahm und sie sich schmauchend ansteckte.
    »Das bedeutet dann wohl, dass der Franzose sterben muss«, merkte er beiläufig an, ehe er sich in eine Wolke aus blauem Dunst hüllte.

 
    6
     
     
     
    P ERSÖNLICHES T AGEBUCH N ACHTRAG
     
    Die Vergangenheit – weshalb übt sie solch große Macht auf uns aus? Leben wir nicht in der Gegenwart? Sollte unser Streben nicht auf die Zukunft gerichtet sein? Weshalb fällt es uns so schwer, sich von dem zu lösen, was gewesen ist?
    Maurice du Gard wiederzusehen hat Erinnerungen geweckt – Erinnerungen an eine junge Frau, die ich nicht mehr bin. Du Gard weiß das nicht und behandelt mich weiter so, wie er es immer getan hat, was mir in Anbetracht der Lage unpassend erscheint. Die Bedenken, die er bezüglich des Falles vorgebracht hat, erscheinen mir dennoch erwägenswert, nicht zuletzt, weil auch ich selbst sie schon gehegt, jedoch aus Pflichtbewusstsein wieder verworfen habe. Da du Gard kein Engländer ist, kann er die Loyalität nicht nachvollziehen, die wir Briten gegenüber dem Königshaus empfinden. Hat er vielleicht gerade deshalb Recht mit dem, was er sagt? Haben meine Treue zur Krone und die Verpflichtungen, die ich meinem Vater gegenüber zu haben glaube, mein Urteilsvermögen beeinträchtigt?
    Der Vorfall in Whitechapel hat mir deutlich gemacht, dass sich hinter diesem Fall ungleich mehr verbirgt, als mir zu Beginn klar gewesen ist. Die Neugier hat von mir Besitz ergriffen, und ich bin bereit, einen hohen Preis dafür zu bezahlen, der Wahrheit und damit der Lösung des Rätsels auf die Spur zu kommen.
    Einen sehr hohen Preis.
    Vielleicht ist dies der Grund, weshalb die Vergangenheit uns alle so sehr in den Bann schlägt – weil wir an jedem Tag, zu jeder Stunde und bei jedem Atemzug mit ihr leben müssen…
     
     
    L EMAN S TREET , W HITECHAPEL
    12. N OVEMBER 1883
     
    Sarah Kincaid stand am Fenster der Dachkammer, die Maurice du Gard seine Wohnung nannte, und blickte über die schäbigen, verwinkelten Dächer und die sich windschief türmenden Schlote, aus denen schwarzer Rauch wölkte, hinüber zur Kuppel von St. Pauls, die sich jenseits der Armut aus dem Häusermeer erhob – scheinbar in greifbarer Nähe, aber für die meisten, die hier lebten, unerreichbar fern.
    Als hätte die Sonne den Anblick all des Elends nicht länger ertragen, war sie jenseits der schäbigen Dächer versunken; ihr Widerschein tauchte den Himmel über der Stadt in orangerotes Licht, während die Nacht ihren Mantel über die Straßen und Gassen des East End breitete. Wohin das Licht der Gaslaternen nicht drang, waren Mangel und Not nicht mehr zu sehen. Aber man konnte sie hören: die verzweifelten Rufe der Bettler, das Gegröle der Betrunkenen, das Geschrei der Waisen und das hysterische Gelächter der Huren.
    Sarah schauderte. Nicht nur der grausamen Morde wegen, die sich hier ereignet hatten, kam ihr das East End vor wie der Vorhof zur Hölle. Der Gedanke, hier zu leben, inmitten all dieses Elends, erfüllte sie geradezu mit Panik.
    »Warum tust du dir das an, Maurice?«, erkundigte sie sich bei du Gard, der dabei war, die Vorbereitungen für die Drachenjagd zu treffen. Die letzten Tage hatten sie damit

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