Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
frage ich euch, wie viele noch sterben müssen, ehe man in Westminster etwas dagegen zu unternehmen gedenkt?«
    »Jawohl«, kam es hier und dort aus der Menge zurück.
    »Der Mann hat Recht!«
    »Wie viele Frauen müssen noch mit durchschnittener Kehle in der Gosse liegen? Wie viele Schriftzeichen müssen noch mit ihrem Blut an die Wand geschmiert werden, bis die Constables endlich den Spuren nachgehen, die eindeutig aus dem East End ins entgegengesetzte Viertel der Stadt führen, geradewegs nach Buckingham Palace?«
    Beifall wurde hier und dort laut, einige Freudenmädchen, die die Opfer möglicherweise gekannt hatten, kreischten laute Zustimmung. Der Redner nickte zufrieden, und Sarah sah den eigentümlichen Glanz in seinen Augen, der ebenso von Entschlossenheit wie von Fanatismus zeugte. Dies war also einer der Rädelsführer, die durch die Straßen zogen und Stimmung gegen das Königshaus machten – und seine Hetzreden fanden geneigte Zuhörer…
    »›Wie lange noch?‹, rufe ich den Mächtigen in Westminster und Buckingham zu«, fuhr der Redner mit Donnerstimme fort. »Und euch allen stelle ich dieselbe Frage: Wie lange wollt ihr euch noch gefallen lassen, dass es niemanden schert, was hier geschieht? Dass es der Regierung offenbar gleichgültig ist, wenn hier gemordet und gestorben wird? Dass ihr hier im Dreck vegetieren müsst, während die Mächtigen und Reichen von goldenen Tellern speisen? Das alles muss ein Ende haben – und es wird ein Ende haben, wenn wir nur alle zusammenstehen und uns verbünden…«
    »Wer ist das?«, raunte Sarah du Gard zu, der seinen Platz im Lokal ebenfalls verlassen und sich zu ihr gesellt hatte.
    »Einer von denen, die sich die Angst der Menschen zunutze machen. Sein Name ist George Lusk, wenn ich mich recht entsinne. Mon dieu, ein höchst unerfreulicher Zeitgenosse, der immerzu davon spricht, eine Bürgerwehr zu gründen – natürlich nur, um seinen eigenen Machtansprüchen zu genügen…«
    »Die Reichen schert es nicht, was mit euch oder euren Kindern geschieht!«, fuhr Lusk in seiner Hetzrede fort. »Es ist ihnen gleichgültig, ob sie verhungern oder mit durchschnittener Kehle enden. Die Hauptsache ist, dass es genügend Arbeitshäuser und Gefängnisse gibt – nur leider sitzen die Falschen darin. Einsperren müsste man jene, die es nicht schert, dass ein blutrünstiges Monstrum in Whitechapel sein Unwesen treibt, und die alles daran setzen zu verhindern, dass der wahre Täter gefasst und zur Rechenschaft gezogen wird!«
    »Das ist nicht wahr«, widersprach jemand mit lauter und klarer Stimme, noch ehe die Menge ihren Beifall bekunden konnte – und Sarah konnte selbst kaum glauben, dass sie es war, die gesprochen hatte.
    »Ma chère«, raunte du Gard ihr verhalten zu, während sich aller Augen auf sie richteten, »das war kein sehr guter Einfall…«
    Lusks Blicke flogen wie Pfeile über die Köpfe der Menge hinweg. »Oh«, meinte er spöttisch, »da scheint jemand zu sein, der es besser weiß als ich. Darf ich fragen, wer Sie sind, meine Dame?«
    Sarah holte tief Luft – sie konnte jetzt nicht mehr zurück. »Mein Name ist Sarah Kincaid«, stellte sie sich vor, »und ich kann den anwesenden Männern und Frauen versichern, dass alles Menschenmögliche unternommen wird, um den Mörder zu finden.«
    »Ist das wahr.« Es war keine Frage, sondern eine herablassende Bemerkung. »Und woher haben Sie Ihre erstaunlichen Kenntnisse, wenn es erlaubt ist zu fragen?«
    »Ich…« Sarah zögerte, während sie sich selbst am liebsten dafür geohrfeigt hätte, sich in eine solche Lage manövriert zu haben. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Temperament mit ihr durchgegangen war, aber möglicherweise das letzte Mal. Sie bemerkte die missgünstigen Blicke, mit denen die Menschen sie beäugten. Unverhohlener Hass starrte ihr aus schmutzigen Gesichtern entgegen, Fäuste wurden geballt. Wenn Sarah die Wahrheit sagte, gefährdete sie nicht nur du Gard und sich selbst, sondern auch den Fortschritt der Ermittlungen.
    »Nun?«, hakte Lusk nach. »Was ist, Lady? Wir hören…«
    »Es ist wahr, dass viel Unrecht in den Straßen von Whitechapel geschieht«, räumte Sarah ein.
    »Hört, hört.«
    »Und es ist auch wahr, dass Gefängnisse und Arbeitshäuser nicht dazu angetan sind, den Armen zu helfen. Aber Hetzredner, die sich die Furcht und Not der Leute für ihre eigenen Zwecke zunutze machen, sind es ganz sicher auch nicht!«
    »Sarah!«, entfuhr es du Gard beschwörend, während ein Raunen

Weitere Kostenlose Bücher