Der Schatten von Thot
durch die Menge ging.
»Sie nennen mich einen Hetzredner?«, erkundigte sich Lusk lauernd. »Ist es das, was Sie sagen wollen?«
»Allerdings«, bekräftigte Sarah, während sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sich einige kräftig gebaute Kerle auf sie und du Gard zu bewegten – Lusks Leibwache, ohne Frage…
»Was Sie nicht sagen. Und was bringt Sie auf diesen Gedanken?«
»Sehr einfach, Sir«, konterte Sarah entschlossen. »Sie stammen weder aus Whitechapel, noch gehören Sie der Unterschicht an. Und ich möchte obendrein wetten, dass noch keiner der Menschen hier im Viertel Sie gesehen hat, bevor die Mordserie begann.«
»Das ist wahr!«, rief irgendjemand.
»Interesse an der Armut haben Sie erst gewonnen, als der Mörder zuschlug und Ihnen klar wurde, dass sich die Angst der Menschen für Ihre Ziele nutzen lässt. Und nur aus diesem Grund sind Sie hier. Ihnen geht es weder darum, diesen Männern und Frauen zu helfen, noch wollen Sie, dass der Täter gefasst wird – denn mit jedem weiteren Mord, den er begeht, gewinnen Sie an Macht.«
»So?«, fragte Lusk, und Sarah entging nicht das gefährliche Blitzen in seinen Augen. »Fahren Sie nur fort, meine Teure, es ist sehr interessant, Ihnen zuzuhören. Als Nächstes werden Sie noch behaupten, dass ich selbst der Mörder bin!«
»Sie sind verdächtig«, räumte Sarah ein, »so wie jeder, der Nutzen aus dem Tod jener Frauen zieht. Und ich werde nicht dulden, dass…«
»Das reicht, Missy. Genug gequatscht.«
Urplötzlich sah sich Sarah von grobschlächtigen Kerlen umringt, deren Züge narbig und rot von Ale und Gin waren. Schon hatte einer von ihnen seine Pranke um Sarahs Arm gelegt und wollte sie davonzerren – als vom anderen Ende der Straße her plötzlich ein schriller Pfeifton erklang.
»Teufel auch, die verdammten Bobs! Nichts wie weg!«
Sofort ließ der Kerl los, und er und seine Kumpane verschwanden so plötzlich in der Menge, wie sie aufgetaucht waren. Auch von Lusk war nichts mehr zu sehen – dafür kamen zwei Dutzend uniformierter Constables die Fournier Street herabgestürmt, um die Blockade aufzulösen, die den Verkehr auf der Commercial behinderte. Die Leute, aufgestachelt von Lusks Rede, protestierten und setzten sich teils zur Wehr, hier und dort brachen wüste Handgemenge aus.
»C’est ca, Kincaid, lass uns verschwinden«, meinte du Gard, packte Sarah am Handgelenk und zog sie kurzerhand davon.
Verwirrt blickte sich Sarah inmitten des wogenden Chaos um, während sie dem Franzosen folgte – die Brushfield Street hinab in Richtung des Marktes und dann in eine der schmalen Gassen, die in die Hinterhöfe führten. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie das Treiben auf der Kreuzung, schwer atmend und froh darüber, so glimpflich davongekommen zu sein.
»Mince alors«, stieß du Gard hervor. »Was sollte das denn werden, Kincaid? Bist du lebensmüde?«
»Durchaus nicht.« Sarah schüttelte den Kopf. »Aber es ist nun einmal die Wahrheit, und es muss erlaubt sein, die Wahrheit auszusprechen.«
»Du hast dich nicht verändert, Kincaid.«
»Doch«, widersprach sie. »Du hast es nur noch nicht bemerkt.«
»Mon dieu.« Du Gard zog ein angeschmutztes Tuch aus dem Ärmel seines Rocks, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn tupfte. »Dann bin ich ja gespannt, was mich noch alles erwartet.«
»Maurice?«, fragte Sarah leise, während sie noch immer zur Kreuzung blickte, wo die Polizei den Auflauf inzwischen fast vollständig aufgelöst hatte. Lusk und seine Kumpane schienen wie vom Erdboden verschluckt, aber Sarah war sicher, dass sie wieder auftauchen würden, sobald sich die Gelegenheit dazu bot…
»Ja, Kincaid?«
»Entgegen meinen ursprünglichen Überlegungen glaube ich, dass wir den Drachen nun doch brauchen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen«, sagte Sarah düster. »Die Zeit läuft uns davon. Whitechapel gleicht einem Pulverfass, und die Lunte brennt bereits…«
In jenem fensterlosen Raum, der sich im Herzen Londons befand, unweit der Pall Mall und des Trafalgar Square, kam es zu einem geheimen Treffen.
Die beiden Gentlemen hatten verschiedene Eingänge benutzt, die sich in verschiedenen Gebäuden befanden, denn niemand ‘sollte sie gemeinsam sehen. Die hohe Kunst der Diskretion hatte sie in all der Zeit, die vergangen war, vor Entdeckung bewahrt, und daran sollte sich auch in Zukunft nichts ändern – bis sie sich eines Tages dazu entschlossen, selbst ans Licht der Öffentlichkeit zu treten. Wenn das Ziel
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