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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Gard, während er in die Innentasche seines Rocks griff und eine bereits halb gerauchte Zigarre hervorzog, die er sich paffend ansteckte. »Dabei vergisst du, dass du weder ein Constable noch eine ausgebildete Kriminologin bist. Die Archäologie ist dein Fach, und dabei solltest du auch bleiben.«
    Sarah rümpfte die Nase. Der billige Tabak verbreitete erbärmlichen Gestank. »Der Mörder«, erwiderte sie, »bedient sich der Archäologie, um seine barbarischen Verbrechen zu tarnen, und das werde ich nicht zulassen. Ich habe Photographien der Opfer gesehen, und ich werde nicht dulden, dass das Vermächtnis einer alten Kultur dazu missbraucht wird, um eine solche Barbarei…«
    »Und du bist sicher, dass es dir dabei nur um die Reputation der Archäologie geht?«
    »Was meinst du?«
    Du Gard lächelte. »Du bist für mich leicht zu durchschauen, Kincaid, selbst nach all der Zeit. Es geht dir bei dieser Sache weder um diese Frauen noch um die Archäologie. Du hast einfach nur das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen.«
    »Du redest Unsinn, du Gard.«
    Der Franzose zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Recht – aber mir kommt es vor, als würdest du versuchen, die Schatten der Vergangenheit loszuwerden. Du versuchst, die Schuld für etwas zu tilgen, an dem dich keine Schuld trifft – und ich bin sicher, dein Vater würde das genauso sehen.«
    Sarah zuckte zusammen. »Bitte, du Gard, fang nicht damit an…«
    »Warum nicht? Wolltest du dich nicht dem Leben stellen, Sarah? Sagtest du nicht, dass…?«
    »Verdammt«, fluchte Sarah, wie es einer Lady aus Mayfair nicht in hundert Jahren in den Sinn gekommen wäre. »Warum scheint dieser Tage plötzlich jeder zu wissen, was gut für mich ist und was nicht? Ich habe dich nicht um deinen Rat gebeten, du Gard, sondern lediglich um deine Hilfe bei diesem Fall. Wirst du mir helfen oder nicht?«
    »Wenigstens«, konstatierte der Franzose ruhig, »ist dir das alte Feuer erhalten geblieben, Kincaid. Oui, ich helfe dir – obwohl ich noch immer glaube, dass vieles bei diesem rätselhaften Fall nicht zusammenpasst. Ich spüre Unheil, Sarah, und das macht mir Angst.«
    »Unheil? Inwiefern?«
    »Ich weiß es nicht, aber ich könnte es für dich herausfinden. Soll ich die Karten befragen? Oder gar den Drachen?«
    »Nein«, wehrte Sarah ab. »Es ist nicht notwendig, dass du meinetwegen deine Gesundheit ruinierst.«
    »Ma chère, da ist nicht mehr viel zu ruinieren. Die Drachenjagd hat mich die besten Jahre meines Lebens gekostet. Sieh mich an – ich bin ein alter Mann.«
    »Dann hör auf damit«, empfahl sie ihm kurzerhand.
    »Manchmal würde ich das gerne«, gab du Gard flüsternd zu. »Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten?« Er beugte sich über den Tisch, bis sein Gesicht dicht vor ihrem schwebte und sie seinen bitteren Tabakatem riechen konnte. »Ich kann nicht mehr damit aufhören. Es ist bereits zu spät für mich…«
    Der Franzose ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen und erging sich in schallendem Gelächter. Sarah stellte fest, dass sie von ihm zugleich fasziniert und abgestoßen war – genau wie damals…
    Plötzlich war von draußen lautes Stimmengewirr zu hören. Durch die schmutzigen Fenster konnte man erkennen, dass sich auf der Commercial Street ein Menschenauflauf gebildet hatte, der den Verkehr auf der viel befahrenen Straße blockierte. Zahlreiche Bewohner des Viertels – Männer in abgetragenen braunen Jacken und Mänteln, aber auch Freudenmädchen in ihren schreiend bunten Kleidern – hatten sich versammelt und riefen wild durcheinander, und nicht wenige von ihnen hatten drohend die Fäuste erhoben.
    »Was ist da los?«, wollte Sarah wissen.
    »Was weiß ich?« Du Gard zuckte mit den Schultern. »Hier in Whitechapel ist so etwas an der Tagesordnung. Du solltest dem keine Beach…«
    Sarah hörte ihm schon nicht mehr zu. Von Neugier getrieben, erhob sie sich und drängte zusammen mit den anderen Gästen des Ten Bells zum Ausgang, um zu sehen, was es draußen gab.
    Inmitten der Menschen, die zwischen den hohen, schmutzigen Backsteinfassaden der Häuser zusammengeströmt waren, ragte ein einzelner Mann auf, der aufrecht auf der Pritsche eines Eselkarrens stand, damit jeder ihn sehen konnte. Der Mann war von hünenhafter Statur und trug einen grauen Wollmantel, wie die meisten im Viertel ihn sich nicht leisten konnten. Seine Züge waren zorngerötet, seine Faust war geballt, und seine Stimme schnitt scharf wie ein Messer durch die kalte Luft.
    »…

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