Der Schatten von Thot
er ihr sagen wollte, und merkte, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte – ein Gefühl unbestimmter Angst. »Maurice«, sagte sie leise. »Gibt es da etwas, das du mir erzählen willst? Willst du mir berichten, was du gesehen hast?«
Der Franzose zögerte einen unmerklichen Augenblick.
»Nein«, behauptete er dann und griff nach der Flasche. Die alte Unbekümmertheit kehrte schlagartig zurück. »Lass uns lieber sehen, was uns die grüne Fee verraten wird – schließlich hat sie mir bereits so manches Geheimnis zugeflüstert…«
Er lachte leise, während er sich den Trank bereitete, der ihn in die Lage versetzen würde, seinen Geist zu öffnen, ihn empfänglich zu machen für die Schwingungen des Übernatürlichen, auf das Sarah ihre Hoffnung setzte. Du Gard füllte das Glas mit der grünen Flüssigkeit des Absinth. Darauf bedeckte er es mit einem kleinen, verkrusteten Rost, auf den er einen Würfel Zucker legte. Aus der Innentasche seines Rocks holte er eines jener Fläschchen hervor, die Sarah auch im St. James Palace gesehen hatte und die in ihrem Aussehen so unscheinbar und in ihrer Wirkung so verheerend waren.
Sorgfältig beträufelte du Gard den Zucker mit dem Laudanum und griff dann nach der Kerze, um ihn zu entzünden. Da alle anderen Lichter im Raum gelöscht und die Nacht inzwischen ganz hereingebrochen war, konnte man die blaue, geheimnisvoll züngelnde Flamme deutlich sehen. Unter leisem Knistern zerfloss der Zucker und träufelte in das Glas, dessen Inhalt sich daraufhin dunkel verfärbte.
Du Gard atmete schwer, während er wie gebannt dem chemischen Prozess zusah, der für ihn ein heiliges Ritual darzustellen schien. Furcht und freudige Erregung schienen ihn dabei gleichermaßen zu erfüllen. Kaum war die Flamme verloschen, nahm er den Rost ab, rührte den Inhalt des Glases um und hob es feierlich hoch, als wolle er einen Toast ausbringen.
»Wohlan«, erklärte er. »Es gibt Leute, die behaupten, der Absinth würde blind machen – mich hingegen macht er sehend. Möge der Drache mir offenbaren, was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt.«
Damit schloss er die Augen, setzte das Glas an und leerte es in einem Zug. Gebannt sah Sarah ihm dabei zu. Es war nicht das erste Mal, dass sie einer von du Gards eigenwilligen Séancen beiwohnte, aber noch immer empfand sie unerträgliche Spannung dabei. Sie konnte sich nicht erklären, was es war, das den Franzosen Dinge sehen ließ, die anderen Menschen ein Leben lang verborgen blieben, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie es tatsächlich wissen wollte…
Plötzlich ging mit du Gard eine Veränderung vor sich.
Sarah hatte seine Hände ergriffen, die er ihr über den Tisch entgegenstreckte, nachdem er ihr erklärt hatte, dass seine Fähigkeit sich dadurch noch verstärkte. Unvermittelt jedoch wandelten sich du Gards Gesichtszüge. Seine ausgemergelte Miene entspannte sich, und er öffnete die Augen wieder. Sarah schien er allerdings nicht wahrzunehmen, obwohl sie ihm direkt gegenübersaß. Es war derselbe leere Blick, den Sarah auch beim Duke of Clarence bemerkt hatte.
Die Drachenjagd hatte begonnen…
»Ich schwebe«, sagte du Gard mit tonloser Stimme, die Sarah schaudern ließ. Es schien nicht du Gard selbst zu sein, der sprach, sondern eine Wahrheit, die weit jenseits des rational Erklärbaren lag und die unter dem Einfluss des Opiats von ihm Besitz ergriffen hatte. »Ich schwebe über den Häusern der Stadt. Ich sehe die Dächer und die Giebel, und ich schmecke den bitteren Rauch, der aus den Schloten steigt… und ich bin nicht allein.«
In einer spontanen Reaktion wollte Sarah fragen, wessen Präsenz du Gard spürte, aber sie hielt sich zurück. In seinem Zustand hätte du Gard ohnehin nicht auf ihre Einwürfe reagiert. Sie musste abwarten und geduldig sein…
»Es ist bei mir«, fuhr du Gard flüsternd fort. »Es ist unsichtbar, nicht zu sehen; es verbirgt sich in den Schluchten der Häuser, in den Schatten und im Nebel, aber ich kann seine Anwesenheit deutlich spüren. Es ist dort draußen, und es wartet… Das Böse treibt sein Unwesen in dieser Nacht, und es sucht nach einem neuen Opfer. Jetzt kann ich es deutlich sehen…«
Erneut unterbrach sich du Gard und schien noch tiefer und angestrengter in sich hinein zu blicken.
»Eine Gasse«, hauchte er, »vor mir liegt eine Gasse. Es ist dunkel und es ist kalt. Ich friere…«
Zu ihrer Verblüffung stellte Sarah fest, dass du Gard tatsächlich ‘fröstelte.
»Ich öffne meinen Geist und
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