Der Schatten von Thot
daran Schuld.
Hätte ich mein Versprechen gegenüber dem Duke of Clarence gebrochen und Scotland Yard berichtet, was der Herzog unter dem Einfluss der Hypnose verraten hat, so hätte Devine nicht anders gekonnt, als die Ermittlungen in Gang zu setzen. Über die Stimme einer einzelnen Frau mag die Polizei sich hinwegsetzen können, aber nicht über die des Thronfolgers, selbst wenn er im Delirium spräche – und Onkel Mortimer wäre sicher nicht entführt worden.
Es ist für mich offenkundig, dass die Mörder von Whitechapel und Onkel Mortimers Entführer identisch sind. Auch du Gard, der gegen mein Anraten erneut den Drachen befragt hat, ist meiner Ansicht. Welche Ziele diese Leute jedoch verfolgen, entzieht sich meiner Kenntnis. Noch immer weiß ich nicht, wer unsere Gegenspieler sind, aber mir ist klar, dass wir uns unwissentlich mit einer Macht angelegt haben, die vor keiner Untat zurückschreckt. Ich habe an etwas gerührt, das besser verborgen geblieben wäre, und dadurch erneut jene in Gefahr gebracht, die mir nahestehen.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher komme ich zu dem Schluss, dass es ein Fehler war, ein Versprechen zu halten, das niemals hätte gegeben werden dürfen. Den Sektierern muss das Handwerk gelegt werden, und das möglichst rasch, ehe noch mehr Unschuldige zu Schaden kommen. Nachdem ich lange mit mir gerungen habe, habe ich mich entschlossen, das Schweigen zu brechen und Sir Jeffrey und Commander Devine die Wahrheit über meine zweite Unterredung mit dem Herzog zu berichten. Vor die bittere Wahl gestellt, zwischen meiner Loyalität gegenüber dem Königshaus und dem Leben eines Freundes zu entscheiden, gebe ich letzterem den Vorzug – wie schon einmal.
Welchem grausamen Schicksal habe ich es zu verdanken, dass gerade jene Menschen, die ich am meisten liebe, immer wieder in lebensbedrohende Situationen geraten – und dass ich die Einzige zu sein scheine, die sie retten kann? Die Parallelen zu Alexandrien sind zu unübersehbar, und ich kann mich nur schwer gegen die Verzweiflung wehren, die mich überkommen will. Ich bereue zutiefst, dem Ruf des Unbekannten gefolgt und nach London gekommen zu sein, doch nun gibt es kein Zurück mehr. Ich kann mich nicht länger verstecken, muss Verantwortung übernehmen und entsprechend handeln. Onkel Mortimer hatte Recht, als er sagte, ich müsste mich dem Leben stellen – aber wer hätte geglaubt, dass seines davon abhängen würde?
Eine Nachricht von Jeffrey Hull hat mich erreicht, derzufolge er mich im Clubhaus der Ägyptischen Liga zu sprechen wünscht. Ich werde der Einladung folgen – und ihm berichten, was ich über den Duke of Clarence weiß. Für Ideale ist kein Platz in dieser Welt…
G EBÄUDE DER E GYPTIAN L EAGUE , P ALL M ALL
16. N OVEMBER 1883
»Danke, dass Sie so rasch kommen konnten, Lady Kincaid«, grüßte Jeffrey Hull, der Sarah im Salon der Ägyptischen Liga erwartete. »Wahrscheinlich wundern Sie sich, weshalb ich Sie in solch ungewohnter Umgebung empfange.«
»Offen gestanden, ja«, stimmte Sarah zu, während sie ihren Blick über das gediegene Ambiente schweifen ließ.
Die Egyptian League war ein höchst exklusiver Club. Da nur ausgesuchte Gentlemen hier verkehrten, die für ihre Mitgliedschaft entsprechend üppige Beiträge entrichteten, leistete sich die Liga ein prunkvolles Erscheinungsbild. Die Säulen, die die holzgetäfelte Decke trugen, waren ägyptischen Palmensäulen nachempfunden, und an den Wänden hingen Gemälde, die Szenen der ägyptischen Geschichte zeigten. Sarah erkannte Thutmosis als Sieger der Schlacht von Megiddo, Echnaton und Nofretete, den Triumph des Perserkönigs Kambyses über Pharao Psammetich bei Pelusium und schließlich den Selbstmord Königin Kleopatras. In den Nischen zwischen den Säulen waren Tische aufgestellt, auf denen die neuesten fachwissenschaftlichen Publikationen bereitlagen – allerdings waren Sir Jeffrey und Sarah die einzigen Besucher, die sich zu solch früher Stunde im Salon des Clubs aufhielten.
»Zum einen verblüfft es mich, dass ich am Eingang nicht abgewiesen wurde«, bemerkte Sarah, »schließlich öffnet die Liga ihre Pforten gewöhnlich ja nur für – wie nannte sie mein Onkel? – ›höchst ehrenwerte und um das Empire verdiente Gentlemen‹. Zum anderen bin ich verwundert, dass gerade Sie mich hierher bestellt haben, Sir Jeffrey. Ich wusste nicht, dass Sie ebenfalls Mitglied der Ägyptischen Liga sind.«
»Die Archäologie ist eine geheime
Weitere Kostenlose Bücher