Der Schatten von Thot
Sarah! Folge der Spur nach Ägypt…«, rief Mortimer Laydon noch, ehe die Pranke eines seiner Häscher heranschoss und seinen Mund versiegelte.
Ein brutaler Schlag mit dem Kolben eines Revolvers stellte den Arzt vollends ruhig. Mortimer Laydon brach in den Armen seiner Häscher bewusstlos zusammen, während sie ihn durch das geborstene Fenster nach draußen schleppten.
»Halt«, rief Sarah entsetzt und wollte den Entführern hinterher – aber deren beide verbliebene Komplizen rissen ihre Waffen in Anschlag und eröffneten das Feuer.
Sarah wartete nicht erst ab, bis das tödliche Blei die Luft durchpflügte – geistesgegenwärtig warf sie sich hinter einem der ledernen Besuchersessel in Deckung. Sie hörte den ohrenbetäubenden Lärm der Schüsse und spürte, wie das Sitzmöbel unter den Einschlägen erbebte. Dann hörte sie einen der Entführer einen hektischen Befehl erteilen, und auch die Schützen zogen sich durch das Fenster zurück.
Nur einen Augenblick hielt es Sarah in ihrem Versteck. Dann lugte sie hinter dem Sessel hervor, dessen mit Leder beschlagene Lehne von Kugeln zerfetzt war. Als sie sah, dass die Vermummten im Dunkel der Nacht zu entkommen drohten, nahm sie die Verfolgung auf.
Es war keine wohlüberlegte Tat, mehr ein Reflex, der aus der Wut über den hinterhältigen Angriff und die Entführung ihres Onkels resultierte. Lauthals um Hilfe rufend, stürzte Sarah zum Fenster und stieg hinaus, wobei sie sich in ihrem Nachtkleid ungleich schwerer tat als die Entführer. Sie schnitt sich die Hände am geborstenen Glas, und auch der Seidenstoff blieb hängen und riss – aber das konnte Sarah nicht aufhalten. Im nächsten Moment hatte sie das Hindernis überwunden und befand sich im Garten, der zu drei Seiten von einer mannshohen Mauer umgeben wurde. Zur Linken, jenseits einer von Efeu bewachsenen Laube, gab es ein schmales Tor, das halb offen stand – dorthin mussten die Entführer geflohen sein.
Weiter um Hilfe schreiend, raffte Sarah ihr Nachtkleid und lief quer durch den Garten zum offenen Tor. Dort angelangt, hielt sie für einen Moment inne und spähte vorsichtig hinaus, nur für den Fall, dass die Entführer ihr einen Hinterhalt bereitet hatten. Aber es war niemand zu sehen, und so stürzte Sarah hinaus auf die von weißen Mauern und entlaubten Platanen gesäumte Straße. Die Vermummten jedoch waren verschwunden. Keine Kutsche, keine Pferde, keine maskierten Gestalten – gerade so, als hätte die Dunkelheit der Nacht sowohl die Entführer als auch ihre wehrlose Beute verschlungen.
Frustriert wandte sich Sarah um, ging einige Schritte in diese, dann in jene Richtung – am Ergebnis änderte es nichts. Ein Diener war kaltblütig ermordet und ihr Onkel entführt worden – und sie kannte noch nicht einmal den Grund dafür.
Aufgebracht kehrte Sarah ins Haus zurück. Im Arbeitszimmer lag alles durcheinander, man konnte deutlich sehen, dass Mortimer Laydon seinen Häschern heftigen Widerstand geleistet hatte. Beiläufig ließ Sarah ihren Blick über den Schreibtisch schweifen, wo einige ärztliche Berichte lagen, die ihr Onkel zuletzt durchgesehen hatte, als ihr bewusst wurde, dass die Entführer eine Botschaft hinterlassen hatten.
Es war eine äußerst kurze Nachricht, die aus einem schmalen Streifen Papyrus bestand, auf den ein altägyptisches Zeichen gemalt war, aber Sarah verstand den Sinn der Botschaft dennoch. In den letzten Tagen hatte sie dieses Zeichen wiederholt gesehen, es gerade hier und jetzt vorzufinden, verursachte ihr jedoch nur noch mehr Unbehagen.
Es war das Zeichen von Thot…
»Und sonst können Sie sich an nichts erinnern?«
Die blasse Miene von Milton Fox starrte auf Sarah Kincaid herab, und die Tatsache, dass der Inspector von Scotland Yard die Augen zu Schlitzen verengt und die schmalen Lippen herausfordernd gespitzt hatte, ließ seine Züge noch animalischer erscheinen.
»Nein«, erwiderte Sarah, die auf einem der Sessel im Arbeitszimmer ihres Onkels Platz genommen hatte. Noch unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse stehend, zitterte sie am ganzen Körper und hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fröstelte und zog den Morgenmantel enger um ihre Schultern. Ringsum wimmelte es von Männern in blauen Uniformen – Beamte des Scotland Yard, die das Haus und den Garten nach Spuren der Entführer absuchten.
»Ich habe Ihnen alles gesagt, woran ich mich erinnere, Inspector, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir jetzt gestatten
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