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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sonne glühende Wüste ihn in Brand gesteckt, stieg Sarah die breiten, am Rand bereits brüchigen Stufen empor, die zur Pforte des Turmes führten. Kamal hatte sie befohlen, bei der Waggonette zu bleiben und dort Wache zu halten.
    Von der Balustrade aus, die das breite, aus behauenen Felsen bestehende Fundament des Turmes umlief, bot sich ein atemberaubender Blick auf die in Dunkelheit versinkende Stadt. Das endlos scheinende Häusermeer mit den Dachgärten und Sonnensegeln versank in schattenhaftem Blau, das nur von den aufragenden Spitztürmen der Minarette und der eindrucksvollen Anlage der El Ashar-Moschee durchbrochen wurde, die sich inmitten des Häusermeers erhob. Zur Linken war die Zitadelle der Stadt zu sehen, deren Mauern einst von Saladin errichtet worden waren. Jenseits davon erstreckte sich das breite Band des Nils, das silbern im Mondlicht glitzerte und aus dem sich die Inseln Bulak, Roda und Tirse erhoben. Und weit im Westen die Ehrfurcht gebietenden Formen der Pyramiden von Gizeh, die als jahrtausendealtes Vermächtnis über die Stadt zu wachen schienen. Die Muezzins riefen zum Gebet, und je weiter sich die Sonne hinter die Klüfte des Mokattam zurückzog, desto deutlicher traten die Sterne hervor, und Sarah wurde klar, weswegen dieser Ort von den Astronomen schon in alter Zeit dazu ausersehen worden war, das nächtliche Himmelsschauspiel zu beobachten.
    Sarah klopfte an die hölzerne Tür – ein geheimes Zeichen, das ihr beigebracht worden war, als sie noch ein halbes Kind gewesen war. Einige Augenblicke verstrichen, dann waren von drinnen knarrende Schritte zu vernehmen. Ein winziges Fenster öffnete sich im Holz der Tür, aus dem ein feindseliges Augenpaar blitzte.
    »Guten Abend«, sagte Sarah ruhig. »Ist der Weise zu sprechen?«
    Der Besitzer der gefährlich blitzenden Augen ließ ein Knurren vernehmen, das eher an einen Leoparden erinnerte als an ein menschliches Wesen. Dennoch konnte Sarah kurz darauf hören, wie ein schwerer Riegel beiseitegezogen wurde. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf, und Sarah trat ein.
    Nun bekam sie den Türwächter in seiner vollen Größe zu sehen. Der Mann war ein wahrer Hüne, der Sarah um zweieinhalb Köpfe überragte. Seine einzigen Kleidungsstücke waren weite Pluderhosen und ein Turban, sein muskulöser Oberkörper war nackt. Trotz seiner Augen, die wie glühende Eisen leuchteten, hatte sein Gesicht etwas Gutmütiges, fast Kindliches. Der Krummdolch, den er in der Hand hielt, relativierte diesen Eindruck allerdings wieder.
    »Sag, Kesh«, sprach Sarah den Riesen an, »erkennst du mich nicht wieder? Ich bin es, Sarah.«
    Der Hüne verdrehte die Augen und schien einen Moment angestrengt nachzudenken. Schon kurz darauf hellten seine Züge sich jedoch auf, und sein breiter Mund verzog sich zu einem Grinsen. Dass er nichts erwiderte, lag nicht daran, dass er Sarah nicht erkannt hätte – sondern vielmehr daran, dass der Wächter der alten Sternwarte von Geburt an stumm war…
    »Ich muss zum Weisen, Kesh«, wiederholte Sarah. »Es ist sehr wichtig. Wirst du mich zu ihm bringen?«
    Wieder schien der kindliche Hüne einen Augenblick zu überlegen. Dann aber nickte er und bedeutete Sarah, ihm zu folgen.
    Über eine schmale, aus Stein gemauerte Treppe, die sich steil nach oben wand, ging es hinauf in die Spitze des Turmes – dorthin, wo vor langer Zeit die Sterndeuter der Kalifen gewirkt hatten und wo jetzt ihr Erbe lebte. Der Durchgang am oberen Ende der Treppe war von einem Vorhang verschlossen. Mit einer unbeholfenen Geste forderte Kesh Sarah auf, hindurchzugehen.
    »Darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?«, fragte Sarah.
    Der Hüne nickte.
    »Draußen vor dem Turm wartet ein Mann auf mich, ein Ägypter. Sein Name ist Kamal, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm trauen kann. Würdest du in meiner Abwesenheit bitte ein Auge auf ihn haben?«
    Erneut nickte Kesh, und um den breiten Mund mit den wulstigen Lippen spielte ein Lächeln.
    »Schukran«, bedankte sich Sarah, schlug den Vorhang beiseite und trat in die Turmkammer. Die Turmkammer sah noch immer genauso aus, wie Sarah sie aus ihren Jugendtagen in Erinnerung hatte. Durch ein hufeisenförmiges Fenster, von dem aus sich ein eindrucksvoller Ausblick auf die Stadt bot, drang lauer Wind in das steinerne Rund. Die unzähligen Regale und Nischen, die in die Wände eingelassen waren, waren vollgestopft mit wundersamen Gegenständen: Gefäße aus Ton und buntem Glas, Figuren aus Holz oder Elfenbein,

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