Der Schatten von Thot
Talismane, die aus dem schwärzesten Afrika stammen mochten; in schlanken Vasen aus Kupfer steckten uralte Schriftrollen; an die Wände waren stilisierte Abbildungen von Sonne, Mond und Sternen gemalt; von der hölzernen Decke, in deren Mitte es eine Leiter gab, die hinauf zur Aussichtsplattform führte, baumelten aus dünnem Kupfer gefertigte Modelle der Planeten, die sich im geheimnisvoll schimmernden Licht der Öllampen umkreisten.
Inmitten all dieser kuriosen Kostbarkeiten thronte auf einigen Seidenkissen ein alter Mann, der einen Turban und eine gestreifte djellabah trug und mit gleichmäßigen Zügen eine Wasserpfeife rauchte. Die Züge des Alten waren ausgemergelt und sahen aus wie von Sonne und Wind gegerbt. Der Blick seiner Augen war glasig und leer.
»Salam al-Eikum, Sarah«, sagte er dennoch und wandte sein Haupt in Richtung der Treppe.
»El-aleikum salam«, erwiderte Sarah den traditionellen Gruß und verbeugte sich tief – nicht aus höflicher Gepflogenheit wie zu Hause in England, sondern weil es ihr ein tiefes Bedürfnis war.
Sie hatte Ammon el-Hakim lange nicht gesehen. Schon damals war er ihr alt erschienen, älter als jeder andere Mensch, den sie je gesehen hatte, und sie hatte die geheime Befürchtung gehegt, der alte Gelehrte könnte inzwischen nicht mehr am Leben sein. Glücklicherweise hatte sie sich geirrt.
El-Hakim nannten die Einheimischen den alten Ammon, was übersetzt »der Weise«, bedeutete, und das kam nicht von ungefähr. Die Reihe seiner Ahnen ließ sich bis in die Tage des alten Babylon und auf das Geschlecht Hammurabis zurückverfolgen, aus dem viele weise und gelehrte Männer hervorgegangen waren: Sternendeuter und Astronomen, Ärzte und Geschichtsschreiber, aber auch Bildhauer und Philosophen. Der alte Ammon war der Letzte seines Geschlechts, in ihm vereinte sich das Wissen unzähliger Generationen. In jungen Jahren hatte Sarah ihn für einen Zauberer gehalten, für einen Magier, der über übernatürliche Kräfte gebot. Heute wusste sie es freilich besser, was ihre Ehrfurcht vor dem alten Greis jedoch nicht verringerte.
Wenn es überhaupt jemanden gab, der ihr Auskunft über das das Buch von Thot geben konnte, so war er es…
»Ihr habt mich nicht vergessen, Meister«, bemerkte Sarah lächelnd. Das Arabisch, dessen sie sich dabei bediente, war flüssig und fast ohne Akzent.
»Wie könnte ich das?« Das Gesicht des Alten zerknitterte sich zu einem wehmütigen Lächeln. »Wie könnte ich meine klügste Schülerin vergessen?«
»Ihr schmeichelt mir, Meister«, erwiderte sie und senkte demütig das Haupt. Dabei fiel ihr auf, dass Ammon weiter unbewegt in ihre Richtung starrte, und ihr wurde klar, dass die Augen des Greises nicht nur blicklos wirkten, sondern es auch waren…
»Gräme dich deshalb nicht, mein Kind«, sagte Ammon, der ihre Gedanken zu erraten schien. »Mein Leben lang habe ich dem Lauf der Sterne zugesehen, und vor ihrem Glanz ist mein Augenlicht verblasst. Aber ich habe mehr Pracht und größere Wunder gesehen als die meisten Menschen, die auf Gottes Erde wandeln.«
Sarah biss sich auf die Lippen. So erschüttert sie darüber war, den Weisen erblindet vorzufinden, so verblüfft war sie darüber, dass er sie dennoch sofort erkannt hatte.
Ammon lächelte, und erneut schienen ihre Gedanken für ihn ein offenes Buch zu sein. »Du hast dich nicht verändert, Sarah«, stellte er fest. »Der Geruch frischer Lavendelblüten eilt dir noch immer voraus, selbst in den stickigen Straßen Kairos.«
»Und daran habt Ihr mich erkannt?«, fragte Sarah zweifelnd.
»Ja und nein. Ich wusste, dass du zurückkehren würdest.«
»Ihr wusstet es?«
»Ja, Sarah. Die Sterne haben es mir verraten, als ich noch sehen konnte. Du hast Fragen, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Fragen, die die Vergangenheit betreffen.«
»Auch das ist wahr, Meister Ammon. Woher wisst Ihr…?«
»Das ist nicht von Belang.« Der Alte schüttelte den Kopf, und mit knochigen Fingern winkte er sie zu sich heran. »Setz dich zu mir, mein Kind. Trink etwas Tee mit mir, und wir werden reden.«
»Danke«, erwiderte Sarah, verbeugte sich abermals, und indem sie ihr Kleid raffte, setzte sie sich dem Weisen gegenüber auf den mit Teppichen ausgelegten Boden. So saßen sie eine Weile lang, während der Alte weiter am Mundstück der Pfeife sog und Sarah es genoss, sich wieder wie ein junges Mädchen zu fühlen. Die Geborgenheit, die dieser Ort vermittelte, hatte etwas Beruhigendes.
Obwohl er nichts sehen
Weitere Kostenlose Bücher