Der Schatten von Thot
wir etwas, mit dem wir über Onkel Mortimers Freilassung verhandeln können. Sie werden mir in dieser Sache also bedingungslos vertrauen müssen.«
Der Offizier starrte Sarah prüfend ins Gesicht und schien einen inneren Kampf zu führen. »Nun gut«, sagte er schließlich, »Sie müssen wissen, was Sie tun, Lady Kincaid – aber ich nehme die hier anwesenden Gentlemen als Zeugen, dass ich jede Verantwortung ablehne und energisch gegen Ihr Verhalten Einspruch erhoben habe.«
»Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Captain«, erwiderte Sarah, und diesmal klang es noch nicht einmal spöttisch. »Aber nun gehen Sie – und erwarten Sie mich erst nach Sonnenuntergang zurück.«
»Geben Sie auf sich Acht, Lady Kincaid.«
»Sie auch, Captain.«
Der Offizier nickte ihr zu, dann erhob er sich von seinem Sitz, stieß die Tür auf und stieg aus. Milton Fox folgte ihm auf dem Fuß, sichtlich froh darüber, der stickigen Enge der Kutsche zu entkommen. Und schließlich schickte sich auch du Gard, der neben Sarah gesessen hatte, an, die Waggonette zu verlassen.
»Alors, bist du sicher?«, raunte er ihr dabei zu. »Ich kann mir denken, wohin du willst, und ich kann dich gerne begleiten.«
»Nicht nötig, Maurice. Tu bitte, worum ich dich gebeten habe – du weißt, was ich meine.«
»Oui, je sais bien.« Er nickte. »Sei auf der Hut, in Ordnung?«
»Du auch.«
Ihre Blicke begegneten sich zum Abschied, dann verließ auch du Gard die Kutsche – und statt seiner erschienen die sonnengebräunten Züge von Kamal in der offenen Tür.
»Darf ich Mylady beim Aussteigen helfen?«
»Danke, Kamal, nicht nötig. Ich habe für die Expedition noch einige Besorgungen zu machen, und da du unser Führer bist, möchte ich, dass du mich dabei begleitest.«
»Natürlich, wenn Mylady es wünschen.« Der Ägypter verbeugte sich beflissen. »Wohin darf ich Mylady bringen?«
»Zu einem guten Schneider«, erwiderte Sarah lächelnd, »ich habe nicht vor, mich in diesen unpraktischen Kleidern auf die Reise zu begeben. Danach zum großen Markt von Esbekija. Und anschließend zur alten Sternwarte…«
2
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH
N ACHTRAG
Den Tag habe ich mit Besorgungen verbracht – freilich nicht nur, um mich, wie ich vorgegeben habe, mit Kleidung und Ausrüstung für die bevorstehende Expedition zu versorgen.
Ich habe meine Reisebegleiter auch deshalb in du Gards Obhut zurückgelassen, weil ich wissen muss, woran ich mit ihnen bin. Seit meiner Entdeckung im Gebäude der Egyptian League ist mir klar, dass unsere Feinde unter uns weilen, und der hässliche Verdacht, dass einer meiner Begleiter für die Gegenseite arbeiten könnte, lässt mich nicht mehr los. Da du Gard der Einzige ist, dem ich trotz seiner diversen Laster bedingungslos vertraue, habe ich ihn gebeten, ein Auge auf die anderen zu werfen und notfalls auch seine besonderen Fähigkeiten zu benutzen, um herauszufinden, ob einer von ihnen falsch spielt. Zwar kann ich mir nicht vorstellen, dass ein königlicher Berater, ein Inspector von Scotland Yard oder ein hochdekorierter Offizier ihr Vaterland verraten würden, aber die Vergangenheit hat mich gelehrt, äußerste Vorsicht walten zu lassen.
Auch Kamal, der Führer, den die Liga uns vermittelt hat, ist grundsätzlich verdächtig. Aber da er als Einheimischer keinen Zutritt zum Hotel hat und du Gard nicht überall zur selben Zeit sein kann, habe ich beschlossen, ihn von jemand anderem beobachten zu lassen.
Von jemandem, den ich seit meiner fugend kenne und den ich lange nicht mehr gesehen habe…
A BBASIYE , K AIRO
19. D EZEMBER 1883
Der Tag neigte sich dem Ende zu, als Sarah Kincaid auf der alten Sternwarte eintraf, die im Nordosten der Stadt gelegen war und sich auf den sanft ansteigenden Hängen des Djebel Mokattam erhob.
Einst von den Kalifen erbaut, konnte das kuppelförmige Gebäude mit dem Turm und der hohen Aussichtsplattform auf eine rund tausendjährige Geschichte zurückblicken. Gelehrte und Astronomen hatten von hier aus das Firmament beobachtet und den Gang der Sterne beurteilt, hatten schon exakte Berechnungen angestellt, als das Abendland den Vorgängen am Nachthimmel noch mystische Bedeutung verliehen hatte. Dass die Zeiten sich gewandelt hatten und die Barbaren von einst sich nun als Herren der Welt gebärdeten, war in Sarahs Augen eine jener Ironien, mit denen die Geschichte bisweilen aufzuwarten pflegte.
Vor dem Hintergrund eines Himmels, der aussah, als hätte die von der
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