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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Niemand weiß, wer sie sind, was sie tun und was sie wollen.«
    »Aber du hast doch eine Ahnung.«
    Er hielt ihrem fordernden Blick nicht stand und sah zu Boden. »Nein«, erwiderte er knapp, »auch ich weiß nichts über sie.«
    Sie glaubte ihm kein Wort, sah aber ein, daß es wenig Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen. Er würde ihr die Wahrheit sagen, wenn er die rechte Zeit für gekommen sah . Vielleicht.
    »Du machst es einem schwer«, sagte sie leise.
    Er kurzes Lächeln flackerte über sein Gesicht. »Ein schlauer Mann hat einmal gesagt, es gäbe keinen wirklichen Unterschied zwischen einem Mystiker und einem Wahnsinnigen. Beide begeben sich auf Reisen in ihr Inneres, verlassen dabei die Grenzen des Ich und tauchen ein in die Erfahrungswelt jenseits der menschlichen Sinne. Während der Wahnsinnige allerdings darin verhaftet bleibt und den Weg zurück nicht mehr finden kann, hat der Mystiker die Möglichkeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren.« Cassius schmunzelte. »Ehrlich gesagt, ich habe nie allzu viel von dieser These gehalten. In all den Jahren habe ich nicht einen erlebt, den die Begegnung mit der anderen Welt nicht gewandelt hätte. Unsere Reisen verändern uns. Es ist wie mit den Krankheiten, welche die Seefahrer von jenseits der Meere mit in die Heimat bringen. Uns Mystikern ergeht es ebenso. Unser Fieber ist ein Fieber des Geistes. Und, gib acht, Sarai, es kann ansteckend sein.«
    Sie dachte an ihren Vater, dachte daran, was die Begegnung mit dem Tod ihm angetan hatte. Er hatte Zuflucht im Gebet gesucht, im Gespräch mit dem Herrn. Erst heute war er wieder außer sich gewesen, daß sie ihn am Sabbat verlassen wollte. Aber er war oft außer sich. Manchmal hoffte sie, der Zorn auf andere möge ihn vor sich selber schützen.
    Cassius, der alles über ihren Vater wußte, schien zu erraten, was in ihr vorging. »Mystik ist nicht gleich Religion«, sagte er. »Und auch was dein Vater tut, hat nichts mit Religion zu tun. Er wird keine göttliche und keine mystische Erfahrung machen, denn Religion ist eine Sache vieler, während die Mystik zwar dem einzelnen vorbehalten ist, aber keinen Trost in der Trauer bringt.«
    Eigentlich war ihr nicht nach derlei Gesprächen zumute, und doch war sie dankbar für die Ablenkung.» Was aber ist dann die Mystik für dich?«
    Es war seltsam, aber in all den Monaten, da sie ihn kannte, hatte sie diese Frage nicht ein einziges Mal gestellt. Sie war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Er war eben Mystiker; bislang war das Erklärung genug gewesen.
    Ab heute aber würde das anders sein. Von nun an wollte Sarai Fragen stellen. Sie war sich nicht im klaren darüber, was die Veränderung hervorgerufen hatte vielleicht die Todesangst vor den Söldnern, vielleicht der Anblick der unheimlichen Frau -, aber ihr war plötzlich, als würde das Wissen vor ihr davonlaufen, wenn sie nicht schnell die Hand danach ausstreckte.
    Cassius ließ sich schwer auf einen gepolsterten Stuhl fallen. »Mystik ist eine Sache des Sehens, Sarai. Der Mystiker weiß nicht nur, er sieht, was er weiß.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Und wer könnte dir deshalb einen Vorwurf machen? Der Mystiker sammelt Erfahrungen. Ich will nicht sagen, er leidet darunter - er sammelt sie einfach. In bestimmten Zuständen sehen wir Dinge, wir schauen Bilder, die anderen verborgen bleiben. Wir wenden uns von den äußeren Sinneseindrücken ab und tauchen in unser eigenes Bewußtsein. Manchmal sehen wir uns dort selbst, manchmal andere. Dabei erfahren wir neues Wissen, oder auch die neue Sicht auf ein altes Wissen. Stell dir zwei Lehrer vor: Der eine vermittelt seine Lehre durch bloße Worte, der andere aber illustriert sie durch Bilder, die er auf eine Tafel malt. Der Mystiker ist der Schülerdieses zweiten Lehrers: Er erfährt all sein Wissen allein durch seine Augen, die er nach innen richtet, während der Schüler des ersten Lehrers, der gemeine Mensch also, dieses Wissen nur durch Worte erfährt, die ihn das Gehörte schnell vergessen lassen.«
    »Demnach kann jeder ein Mystiker sein, er braucht nur den richtigen Lehrer«, stellte Sarai nachdenklich fest.
    »Und die richtigen Augen«, fügte Cassius hinzu.» Ohne die Bereitschaft und das Talent, diese Erfahrungen im eigenen Inneren nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden, wird aus keinem ein wahrer Mystiker.«
    »Habe ich die richtigen Augen, Meister Cassius?« fragte sie scheu.
    »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf, »ich glaube, du hast sie

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