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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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davon, kreisförmig an den Wänden aufgestellt - loderte eine Flamme und erhitzte ein köchelndes Gebräu. Eine Vielzahl tropfender Kerzen spendete sanftgelbes Licht.
    »Erzähle mir, was geschehen ist«, bat er seufzend.
    Sarai ließ sich im Schneidersitz auf einem riesigen Stuhl nieder, dessen hohe Lehne mit aufwendiger Schnitzerei verziert war. Cassius hatte einmal behauptet, er selbst hätte dieses Kunstwerk vollbracht, doch Sarai zweifelte daran. Trotzdem gefiel ihr der Stuhl, er war schwer und beinah schwarz vom Alter, und er stand gleich neben einem der winzigen Fenster. Sie hatte lieber Tageslicht um sich, ganz gleich wie spärlich; das zitternde Flackern der Kerzen beunruhigte sie. Die Flammenerinnerten sie an den Tag, als ihre Mutter auf dem jüdischen Friedhof beerdigt worden war. Ihr Vater hatte daheim Dutzende Kerzen entzündet und drei Tage ohne Unterbrechung gebetet. Sie hatte damals große Angst um seine Gesundheit gehabt. Sie hatte sie heute noch.
    Sie begann ihren Bericht mit dem Gang über die Brücke , erzählte von der Verfolgung durch die Söldner und ihrer Flucht in die Balkengasse. Als sie zur Schilderung des Hühnerweibes kam, weiteten sich die Augen des Alchimisten vor Erstaunen.
    »Du hast eine von ihnen gesehen?« fragte er aufgeregt und kam eilig auf Sarai zu, als wollte er ihre Erinnerung festhalten, sollte sie sich unerwartet verflüchtigen.
    Sarai nickte - obgleich sie die Worte >eine von ihnen< verwirrten. Gab es denn mehrere davon?
    Sie beschrieb dem Alten die seltsame Erscheinung bis ins kleinste. Dabei stellte sie fest, daß sie vieles in ihrer Aufregung gar nicht beachtet hatte, etwa, ob die Frau jung oder alt gewesen war. So sehr sie auch in ihrem Gedächtnis danach suchte, sie konnte sich nicht erinnern. Wohl aber standen ihr Kleidung und Haartracht deutlich vor Augen, und beides schien Cassius aufs höchste zu erregen. Ruhelos ging er von neuem auf und ab.
    Zuletzt schilderte Sarai ihm, wie sie den Staub in die Augen des Söldners geschüttet und ihn so überwunden hatte. Doch dafür brachte der Alte kaum noch Geduld auf. Sarai war ein wenig beleidigt, daß er keine Sorge um ihr Wohlergehen zeigte. Aber so war er: Sobald ihn etwas beschäftigte, verlor alles andere an Bedeutung.
    »Und dieses Ei«, vergewisserte er sich schließlich, »lag erst am Boden, nachdem die Frau verschwunden war?«
    Sarai hob die Schultern und erwiderte schnippisch:
    »Verzeih, daß ich vorher um mein Leben lief und keine Zeit hatte, nach Eiern zu suchen.«
    Er winkte mit einer fahrigen Handbewegung ab. »Das läßt sich kaum mehr ändern.«
    Empört wollte sie auffahren, ließ es dann aber bleiben. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Cassius meinte es nicht böse.
    Der Alte nahm vorsichtig das Ei in die Hand, das Sarai auf einem der Tische abgelegt hatte. Er betrachtete es von allen Seiten, trat sogar vors Fenster, um es gegen das Licht zu halten.
    »Ein gewöhnliches Hühnerei«, erkannte er schließlich.
    Sarai zog eine Grimasse. »Sieh an, sieh an.«
    »Zumindest von außen.«
    »Was glaubst du denn, was darin ist? Ein Basilisk? Ein Kind vielleicht?« »Wir sollten versuchen, es herauszufinden.« »Willst du dich drauf setzen und brüten?« Erstmals schien er Sarais Spott zu bemerken, denn er schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick. »Du könntest es essen, und wir warten ab, was geschieht«, schlug er vor, halb ernst, halb im Scherz.
    »Du hast mir lange kein Essen mehr mitgegeben, nicht einmal Brot«, beklagte sie sich.
    »Weil ich selbst kaum etwas habe - und das wenige habe ich stets mit dir geteilt, mein Kind.«
    Das stimmte wohl, und nun, da die Stadt in Feindeshand war, mochte sich die Lage noch verschlimmern. Ihr selbst reichte das aus, was Cassius ihr gab. Ihr Vater aber mußte bei Nachbarn um Brot und Milch betteln. Seit dem Tod ihrer Mutter ging er nicht mehr zur Arbeit in die Ställe.
    »Was also hast du vor?« fragte sie und deutete auf das Ei.
    Er atmete tief durch. »Ich bin nicht sicher.«
    »Was hat es denn mit dieser Hühnerfrau auf sich? Du weißt doch etwas, oder?«
    Cassius schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich hörte, daß sie vor einigen Wochen zum erstenmal in der Stadt gesehen wurden. Eine soll sogar hier oben auf dem Hradschin gewesen sein, auf den Dächern des Doms. Doch das mag Gerede sein. Ich hörte, wie die Diener darüber sprachen. Fest steht aber offenbar, daß die Weiber in einigen Winkeln der Stadt aufgetaucht sind, auch mehrere zur gleichen Zeit.

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