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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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alles mitgenommen, das ihnen wertvoll erschien. Selbst vor den Synagogen hatten sie nicht haltgemacht. Zwei Rabbiner waren öffentlich vor ihren Gotteshäusern erschlagen, die Leichen verbrannt worden.
    Im zweiten Stock sah es ebenso aus wie im ersten und weiter unten im Hof. Beinahe angewidert stieg sie über das zerschlagene Gerumpel hinweg. Aus einigen Quartieren drangen leise Stimmen an ihre Ohren, aber sie hörte nicht auf das, was sie sagten. Seit dem Überfall der Söldner waren alle Gespräche im Vierte l zu bangem Flüstern abgeklungen. Die Menschen wagten nicht mehr, ihre Stimmen zu heben. Wer sprechen mußte, der tat es leise und mit Vorsicht. Sarai konnte es nachvollziehen und verachtete zugleich die Mutlosigkeit der Menschen. Ihre eigene eingeschlossen.
    Sie wollte nur noch nach Hause, schnurstracks ins Bett. Schlafen bis weit in den nächsten Tag hinein.
    Da spürte sie es.
    Das Gefühl war ganz plötzlich da, ohne Ankündigung. Erst war es nur etwas in ihrem Kopf, dann empfand sie es auch körperlich. Von einem Moment auf den anderen wollten ihre Beine ihr nicht mehr gehorchen. Es fühlte sich an, als wate sie durch unsichtbaren Schlamm. Jeder Schritt fiel ihr schwerer und schwerer. Etwas wollte sie zurückhalten. Wovor?
    Ihre Unterkunft befand sich am Ende des düsteren Korridors. Die geschlossene Tür wurde von einem langen Riß geteilt, war aber nicht zerbrochen. Durch den schmalen Spalt im Holz fiel kein Licht, kein Kerzenflakkern.
    Ihr war, als würde sie die letzten Schritte nicht mehr vollenden können. Sie würde hier draußen stehen bleiben und auf die Tür starren. Sich ausmalen, was dahinter war.
    Dein Vater. Nur dein Vater.
    Wirklich?
    Ja, ja. Sicher.
    Mühsam schleppte sie sich weiter auf das Quartier zu. Niemand war auf dem Flur, der sie dabei hätte beobachten können. Falls doch, hätte es für ihn keinen Unterschied gemacht - nach außen hin sah es aus, als ginge sie einfach den Gang hinunter. Das Schleppen fand nur in ihrem Geiste statt.
    Sarai begann, mit sich selbst zu streiten. Es gab keinen Grund für ihr Zögern. Die Gefahren lagen hinter ihr. Sobald sie die Tür hinter sich verriegelt hatte, war sie in Sicherheit. Keine Söldner mehr, keine geisterhaften Hühnerfrauen.
    Ihr Vater würde wie immer in seinem Lehnstuhl sitzen und durch das offene Fenster auf den Hof und zum Himmel starren. Es war Sabbat, er würde beten.
    Sie begann, die Gegenstände, die auf dem Gang lagen, genauer zu betrachten. Ein Tischbein, eine Stuhllehne, zerschlagenes Geschirr. Noch mehr zerrissene Kleidung. Ihr selbst war klar, daß sie nur Zeit schinden wollte.
    Die Türklinke war groß und klobig, ihre Oberfläche schwarz angelaufen. Sarai legte zögernd die Hand darauf, drückte sie hinunter. Die Kälte des Metalls kroch durch ihren Arm bis hinauf zur Brust. Sie sah, daß ihre Finger zitterten. Herrgott, wovor fürchtete sie sich überhaupt? Alles sah aus wie immer. Nichts hatte sich verändert.
    Sie blickte an sich herab und sah zu ihren Füßen ein hölzernes Spielzeugpferd liegen. Ein Bein war abgebrochen. Ihr Großvater hatte es ihr einst geschnitzt. Die Plünderer hatten es, wie so vieles andere, zerschlagen und auf den Gang geworfen. Die aufgemalten Augen des Tieres erschienen ihr unendlich traurig. Sarai konnte den Anblick nicht länger ertragen und drückte gegen die Tür .
    Sie war verriegelt. Das war sie sonst nie. Nicht einmal, nachdem die Ligasöldner dagewesen waren. »Die haben
    alles mitgenommen, was sie wollten«, hatte ihr Vater gesagt, »die kommen nicht wieder.« Die Männer hatten kaum etwas von Wert gefunden, nur ein paar Schmuckstücke ihrer Mutter. Insgeheim war Sarai froh gewesen, daß die Ringe und Broschen nun fort waren, denn mit ihnen ging auch ein weiteres Stück schmerzhafter Erinnerung.
    »Vater?« rief sie durch die Tür und klopfte leise.
    Niemand antwortete. Die Tür blieb verriegelt.
    Sie rief ihn noch einmal, diesmal lauter. Auch ihr Klopfen wurde heftiger. Vergeblich. Hinter dem Holz herrschte völlige Stille. Sarai preßte ein Auge an den Riß. Sie sah nichts außer Dunkelheit und ein mattes Schimmern, das von den Fenstern rühren mochte. Die Nacht hatte die Dämmerung verdrängt, aber eine schmale Mondsichel stand fahl am schwarzen Himmel. Gut möglich, daß ihr Schein auf Möbeln und Wänden glänzte. Der Riß in der Tür war nicht groß genug, um Genaueres zu erkennen. Zudem stand der Lehnstuhl ihres Vaters im Hinterzimmer, mit der Rückseite zum Eingang. Sie

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