Der Schattenesser
Inhalte ausgeleerter Nachttöpfe. Nirgends in Prag sah es besser aus, der Unterschied lag nur zwischen Armut und Elend. Obgleich viele der Juden, die hier lebten, einträgliche Geschäfte als Händler und Geldleiher geführt hatten, waren die Bedingungen, unter denen sie lebten, erbärmlich. Es gab niemanden, der die Straßen und Gassen säuberte, keinen, der Abfall und Schmutz beiseite kehrte. Sicher, es hatte Bestrebungen des Ältestenrates gegeben, mit Hilfe von Freiwilligen dem Ersticken im Schmutz entgegenzutreten, doch alle Mühen waren schon nach kurzem im Nichts verebbt. Prag war nur aus der Ferne jene Goldene Stadt, die von den Dichtern besungen wurde. In ihren Höfen und Klüften aber regierten Abschaum und Krankheit.
Der Einfall der Liga hatte die Dinge nicht eben zum Besseren gekehrt. Zum Gestank überall in der Stadt gesellte sich nun der Rauch brennender Häuser, der Pesthauch verwesender Leichen und das Schreien der Witwen und Kinder, der Kranken und Hinterbliebenen. Seit zwei Tagen kümmerte sich ein jeder nur noch um sich selbst, sogar in der Judenstadt, wo der Zusammenhalttraditionsgemäß weit größer als in anderen Vierteln gewesen war.
Sarai lief die Geistgasse hinunter und bog von dort in einen schmalen Weg zur Rechten. Dort wiederum trat sie durch einen Torbogen und überquerte einen Hof, der deutliche Spuren der Plünderer trug: Zerschlagene Möbel, die kurzerhand aus den Fenstern geworfen worden waren , Glasscherben und zerrissene Kleidungsstücke bedeckten den Boden. Zahllose Höfe waren von Verwüstungen wie dieser betroffen, in den meisten Quartieren sah es noch schlimmer aus. Sarai fragte sich nicht zum ersten mal , ob alles jemals wieder so sein würde wie vor dem Krieg mit der Liga.
Neben der Tür zum Hinterhaus, in dessen zweitem Stock sie mit ihrem Vater wohnte, hatte man ein Schmähplakat des gestürzten Gegenkönigs Friedrich angebracht. Seit der Schlacht am Weißen Berg befand er sich mit seiner Familie auf der Flucht, und so sprach die Schrift des Plakats vom >treulosen Fritz< und war überschrieben mit >Gesucht wird der Herzkönig<. Herzkönig, weil dies der wertloseste König des Kartenspiels war.
Friedrich hatte sich gegen den Willen des deutschen Kaisers Ferdinand auf Böhmens Thron geschwungen, obgleich Ferdinand selbst doch Anspruch auf diese Krone hatte. Der Kaiser wiegelte daraufhin die Mitglieder der katholischen Liga, ein Bund der Fürstentümer Bayern, Mainz, Köln und Trier, außerdem aller Fürstbischöfe Oberdeutschlands, zum Krieg gegen Böhmen und den jungen Gegenkönig auf. Friedrich, der sich zu Anfang noch von protestantischen Kurfürsten gestärkt sah, stand zuletzt allein mit seinen spärlichen Truppen da. Seine einzigen Verbündeten, Siebenbürgens grausamer Fürst Bethlen Gabor und der Söldnerführer Ernst von Mansfeld, waren anderswo beschäftigt: Mansfeld wartete mit seinem käuflichen Heer in Pilsen darauf, wer ihm ein höheres Angebot machte, während Bethlen Gabors Leute es vorzogen, die umliegenden Ländereien zu plündern, statt sie zu beschützen. Die Schlacht am Weißen Berg hatte schließlich den Untergang Friedrichs und mit ihm ganz Böhmens besiegelt.
Sarai schenkte dem Plakat des geschmähten Herzkönigs keine weitere Beachtung. Sie hatte ihn von Anfang an verachtet, wenngleich auch aus anderem und sehr viel persönlicherem Grund: Ihre Mutter war während seiner Krönungsfeierlichkeiten im August 1619, vor fünfzehn Monaten, ermordet worden. Im Trubel der Festlichkeiten hatten Betrunkene sie in eine Seitengasse gezerrt, ihr Gewalt angetan und sie danach erdrosselt. Sarais Vater gab alle Schuld dafür dem König, und sie selbst hatte seinen heißblütigen Anklagen gegen den Herrscher nichts entgegenzusetzen. Natürlich wußte sie daß Friedrich selbst am Tod ihrer Mutter keine Schuld traf, doch die Gewißheit, daß ohne ihn alles anders gekommen wäre, nistete tückisch in ihrem Hinterkopf. Als die Kunde von der verlorenen Schlacht in die Judenstadt drang, hatten Sarai und ihr Vater den Untergang Friedrichs bejubelt, ohne zu ahnen, welches Grauen damit über Prag kommen sollte.
Sarai stieg die Treppe hinauf. Zahlreiche Eingänge zu Unterkünften waren nur notdürftig versperrt; die plündernden Söldner hatten die meisten Türen einfach aus den Angeln getreten. Auch im Treppenhaus und auf den Gängen lagen zerstörte Möbel, gesplitterte Vasen und Tonkrüge. Die Soldaten waren am Morgen des Vortages ins Viertel eingefallen und hatten
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