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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Flügeln, wenn ihm eine gereckte Faust oder eine Fackel zu nahe kamen.
    Der Schutzwall der Söldner am Brückentor mochte noch zehn Schritte entfernt sein, doch davor kochte ein Hexenkessel aus wütenden Leibern. Cassius blieb stehen und überlegte. Bis hierher hatte er sich unbeschadet durch die Menge vorkämpfen können, doch der Rest des Weges schien unüberwindlich. Auf dem letzten Stück bildeten Männer und Frauen eine undurchlässige Barriere. Ihm blieb nichts übrig, als seinen Plan zu ändern.
    »Laßt mich durch!« schrie er so laut er konnte. »Ich bin Doktor der Medizin, hört ihr? Ich muß ans andere Ufer, um den Menschen dort zu helfen. Laßt mich durch, in Gottes Namen!«
    Erst schien es, als höre überhaupt niemand auf das, was er sagte. Nur ganz allmählich, nachdem er seine Rufe wiederholt hatte, drang ihre Bedeutung zu den Menschen durch. Erst widerstrebend, dann immer schneller, machten einige von ihnen dem Alchimisten Platz. Es war keine wirkliche Schneise, die sich bildete, dafür war die Aufregung noch immer viel zu groß, doch zumindest gelang es Cassius nun, sich bis in die vordere Reihe zu schieben. Dort stand er einem der Söldner gegenüber.
    »Ich will Euren Befehlshaber sprechen!« brüllte er dem Mann über den Lärm hinweg zu. »Ich bin Doktor. Ich muß auf die andere Seite. Man erwartet mich dort.«
    Der Söldner musterte ihn mißtrauisch. Ganz offensichtlich glaubte er Cassius kein Wort. Vielmehr schien er anzunehmen, er habe es mit einem verwirrten Kauz zu tun, der sich selbst ins Unglück stürzen wollte. Das merkwürdige Federvieh auf der Schulter des Alten bestärkte ihn in seiner Ansicht. Die Folge war, daß er es nicht einmal für nötig erachtete, Cassius eine Antwort zu geben.
    »Ich bin der Leibarzt der Fürstin Fallada«, rief Cassius noch einmal. Eine Fürstin dieses Namens gab es nicht, aber welcher gemeine Söldner würde das wissen? »Meine Herrin hat mich von der Burg herabgesandt, um den Menschen am anderen Ufer zu helfen.«
    »Ihr werdet dort drüben sterben, alter Mann«, entgegnete der Söldner.
    »Wer seid Ihr, über mein Opfer zu entscheiden?« erwiderte Cassius aufgebracht. »Die Fürstin ist bereit, diesen Verlust in Kauf zu nehmen. Und ich bin es ebenfalls. Nun laßt mich durch oder gewährt mir ein paar Worte mit Eurem Obersten.«
    Der Söldner blickte ihn noch eine Weile zweifelnd an, dann rief er über die Schulter hinweg einen Namen.
    Kurz darauf kam ein weiterer Soldat von hinten herbei und beugte sich über die Schulter seines Untergebenen. Sein verzierter Harnisch, fraglos ein teures Stück, ließ auf einen höheren Rang und bessere Besoldung schließen.
    »Was willst du?« brüllte er dem Posten ins Ohr. Das Schreien und Toben der Menge drohte seine Worte zu schlucken.
    Der Wachtposten wiederholte Cassius' Begehren, worauf der Hauptmann ihn prüfend betrachtete.
    »Ein Doktor, sagst du?« fragte er. »Oben von der Burg?«
    »Allerdings«, erwiderte Cassius. »Was habt Dir zu verlieren, wenn Ihr mich durchlaßt?«
    Der Hauptmann grinste schief. »Jeder hier kann behaupten, er käme von der Burg. Los, geh nach Hause, Alter. Das hier ist nichts für dich.«
    Cassius wollte etwas erwidern, als sich die Menge in seinem Rücken plötzlich teilte. Genau zur richtigen Zeit, dachte er und freute sich insgeheim, daß seine Schätzung zutraf.
    Von hinten rückten die Söldner vom Burgtor heran. Mit Rufen und Hieben drängten sie die Menschenmenge auseinander, um zu ihren Gefährten am Fuß der Brückentürme vorzustoßen.
    Cassius drehte sich zu ihnen um. Eine Hand wollte ihn grob beiseite stoßen, doch da rief er: »Haltet ein! Erkennt Ihr mich denn nicht?«
    Der Söldner, der ihn hatte fortdrängen wollen, zögerte und blickte ihm verwundert ins Gesicht. Cassius sah an seinen Augen, daß der Mann ihn tatsächlich wiedererkannte. Während die übrigen Waffenträger an ihnen vorüberfluteten, blieben Cassius, der Söldner vom Hradschin und der Hauptmann der Torwachen stehen.
    Mit wenigen Worten wiederholte Cassius sein Begehren und bat den Soldaten, seinem Hauptmann zu bestätigen, daß er tatsächlich eben erst die Burg verlassen habe.
    Der Söldner nickte. »Das ist wahr.«
    »Seht Ihr?« wandte sich Cassius an den Hauptmann.
    Der schien einen Augenblick nachzudenken, dann sagte er endlich: »Du kannst passieren, alter Mann. Einer meiner Männer wird dich bis zum anderen Ufer begleiten.«
    Damit war die Angelegenheit für den Hauptmann beendet. Was scherte es

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