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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gerader Linie den Zugang versperrten. Weitere Ligasöldner standen rechts und links der Menge, die Hände an den Waffen, ohne aber einzuschreiten. Gewalt schien es bislang auf keiner der beiden Seiten gegeben zu haben, obgleich doch die Bürger der Kleineren Stadt mehr als genug Gründe hatten, die gegnerischen Soldaten zu hassen. Es war erstaunlich, daß die Anführer der Aufrührer ihre Leute so weit unter Kontrolle hatten, daß keiner die Hand zum entscheidenden Vorstoß erhob. Vielleicht sah man ein, daß den waffenstarrenden Söldnern nicht beizukommen war. Vielleicht waren die meisten insgeheim sogar froh darüber, daß der Weg zur pestverseuchten Seite der Stadt versperrt war. Wem konnte schon ernsthaft daran liegen, daß der Schwarze Tod auch in diesen Teil Prags eingeschleppt wurde, ganz gleich, wie nahe einem die Kranken standen?
    Cassius hatte erstmals vom Ausbruch der Seuche gehört, als er aus dem Mihulka-Turm herabstieg und die Burg durchs Haupttor verließ. Die wachhabenden Ligasöldner hatten ihn verwundert gemustert - vor allem den fremdartigen Vogel auf seiner Schulter -, dann hatten sie ihn vor den Gefahren gewarnt, die unten in der Stadt lauerten. Auch sagten sie ihm, daß der Kurfürst den Befehl gegeben habe, niemanden mehr ins Innere der Burg zu lassen, der einmal an der Außenseite gewesen sei. Sollte Cassius es sich also auf halbem Wege anders überlegen und umkehren wollen, so würden sie ihm den Eintritt verwehren müssen.
    Nun sah er sich dem Aufruhr am Eingang der Brücke gegenüber, und der Anblick erfüllte ihn mit Hilflosigkeit. Wie sollte er jetzt in die Judenstadt gelangen?
    Er zog sich in den Schatten eines Hauseingangs zurück, wo ihn das Licht der Fackeln nicht erreichen konnte, und sann über eine Lösung nach. Saxonius knirschte an seinem Ohr leise mit dem Schnabel, ein Zeichen dafür, daß er die Stimmung seines Meisters teilte. Der Vogel verstand einiges von den Launen der Menschen. Cassius hatte ihn vor vielen Jahren einem fahrenden Händler abgekauft, für ein zerknülltes Pergament, auf dem, so hatte Cassius dreist behauptet, das Geheimnis der Unsterblichkeit geschrieben stand, wenn auch in unsichtbarer Tinte. Damals war er jung und wagemutig gewesen, und die Erinnerung erfüllte ihn mit Wehmut. In jenen Tagen hatte er um sein tägliches Brot kämpfen müssen, mit allerlei Betrügereien, die er auf dem Wege der Alchimie ersonnen hatte. Als er seine Kunst später ernsthaft betrieb, wurde er von Kaiser Rudolf in dessen Dienste übernommen und hatte - erst gemeinsam mitanderen seiner Zunft, schließlich ganz alleine - seine Forschungen im Mihulka-Turm fortgesetzt. Dabei war er in den geheimen Bibliotheken des Kaisers auf Schriften gestoßen, die niemand außer ihm zu entschlüsseln vermochte, schon gar nicht der naive Regent. Ohne Wissen des Kaisers hatte er seine Versuche mit Blei und Gold vernachlässigt und sich anderen, älteren Lehren gewidmet. Ob mit Erfolg, war ungewiß. Vielleicht würde die heutige Nacht eine Entscheidung bringen. Ganz sicher würde sie das.
    Die Rufe und Flüche der Menge wurden lauter, ebbten wieder ab, steigerten sich erneut, ein ständiges Auf und Ab. Die Lage war äußerst gespannt. Ein falsches Wort, ein vorschneller Angriff beider Seiten, konnte den Aufruhr in Rebellion verwandeln.
    Da bemerkte Cassius, daß sich aus der Richtung der Burg ein weiterer Trupp Söldner näherte. Offenbar sollten sie die Wachhabenden an der Brücke unterstützen. Ihre bunte Kleidung flitterte im Licht der Fackeln; Schwerter und Lanzen blitzten. In vorderster Reihe gingen dieselben Männer, die eben noch das Tor des Hradschin bewacht hatten.
    Cassius kam ein Einfall. Die Neuankömmlinge waren noch etwa hundert Schritte entfernt. Er würde sich beeilen müssen, um den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Er packte den Beutel mit seinen Utensilien fester, raunte Saxonius zu, er möge sich nicht von seiner Schulter bewegen, dann verließ er den dunklen Hauseingang und trat hinaus ins Fackellicht.
    Niemand beachtete ihn, alle Blicke waren voraus aufs Brückentor gerichtet. Weiter hinter sich hörte er die Schritte der Soldaten vom Hradschin. Er mußte die Wächter an der Brücke unbedingt vor ihnen erreichen.
    Mühevoll begann er, sich durch die wogende Menge zu drängen. Von allen Seiten wurde getreten und gestoßen. Cassius erfuhr auf schmerzhafte Weise, daß sein alter Körper kaum noch für solche Aufregung taugte. Saxonius flatterte gelegentlich empört mit den

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