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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihn, daß der alte Mann in sein Verderben lief? Einem milchgesichtigen Söldner gab er den Auftrag, mit Cassius zur anderen Seite zu gehen. Der Junge nickte steif, ergriff eine Fackel und führte Cassius sicher durch das Gewimmel der Soldaten und Bürger.
    Sie passierten die Kette der Wachtposten und gingen unter den Brückentürmen hindurch. Als sie die andere Seite des Tunnels erreichten, klang der Lärm der Menge fern und gedämpft. Jenseits der Türme herrschte Stille, nur der Wind, der über den Fluß peitschte, und das Rauschen der Strömung säuselten in ihren Ohren. Sie waren die beiden einzigen Menschen hier draußen.
    »Ihr seid Doktor?« fragte der junge Söldner.
    Cassius war erstaunt, daß er ihn ansprach. Er hatte geglaubt, die Furcht vor der Pest hätte dem Jungen die Sprache verschlagen.
    »Ja«, gab er zur Antwort, »Leibarzt der Fürstin Fallada.«
    »Ich habe nie von ihr gehört.«
    Einen Herzschlag" lang vermeinte Cassius Mißtrauen in der Stimme des anderen zu erkennen. War es möglich, daß der Junge seine List durchschaut hatte? Kannte er die Fürstenfamilien Prags?
    »Jeder in Prag kennt sie«, behauptete Cassius. »Sie ist die Großnichte Kaiser Rudolfs.«
    » Merkwürdig , daß ich mich nicht an ihren Namen erinnere.«
    Noch immer war Cassius nicht sicher, wie der Söldner seine Worte meinte. Verdächtigte er ihn der Lüge? Odersprach er nur achtlos aus, was ihm in den Sinn kam?
    Der Junge blickte starr geradeaus, auch während er sprach. Das andere Ufer war in Finsternis gehüllt, die meisten Dächer verschmolzen mit dem Nachthimmel. Nur in der Nähe des Brückenturmes brannten Fackeln. Die meisten Fenster mußten so dicht mit Stoffen und Brettern versiegelt sein, daß kein Kerzenschimmer nach außen fiel. Die dunklen Umrisse der Palais und Türme wirkten bedrohlich. Die ganze gespenstische Stadtschien wie tot.
    Sie hatten kaum ein Drittel der Brücke hinter sich gebracht, als der Söldner fragte: »Wie macht Ihr das, ich meine, wie heilt Ihr die Pest?«
    »Ich kann sie nur lindern, nicht heilen.«
    »Aber welche Mittel verwendet Ihr?«
    Die Fragen des Jungen erschienen ihm immer eigentümlicher. Wahrscheinlich hatte der Hauptmann ihm zu verstehen gegeben, er solle Cassius aushorchen. Wie aber wollte er seine Aussagen überprüfen? Dazu mußte ihm das nötige Wissen fehlen. Ein lächerliches Unterfangen.
    »Erst einmal gilt es zu erkennen, ob der Kranke wirklich an der Pest leidet. Das ist bei manchen nicht einfach. Oft ist die Seuche kaum von einem einfachen Ausschlag zu unterscheiden.«
    »Und wie erkennt Ihr sie?« wollte der Junge wissen.
    »Mein Vogel hilft mir dabei«, erklärte Cassius und deutete auf Saxonius, der stocksteif und schweigend auf seiner Schulter hockte. Allmählich begann ihm der Schwindel Vergnügen zu bereiten. Er würde dem Jungen einen Bären aufbinden, daß ihm Hören und Sehen verging.
    Der Söldner blickte ihn zum erstenmal an. Ihm war anzusehen, daß er Cassius nicht glaubte. »Wie soll ein Vogel den Schwarzen Tod erkennen?«
    »Er wittert ihn. Manche Tiere besitzen diese Gabe.«
    »So, tun sie das?«
    Cassius' Anflug von guter Laune schwand mit einem Schlag. Der Tonfall des Jungen beunruhigte ihn. Er klang so ernst. Nicht neugierig oder einfach nur mißtrauisch, sondern eher, als verfüge er über ein Wissen, das Cassius verborgen war. Er beschloß, fortan vorsichtiger zu sein.
    Trotzdem mußte er das einmal begonnene Spiel zu Ende bringen.
    »Mein Vogel wittert einen Pestkranken auf mehrere Schritte Entfernung«, sagte er. »Warum sonst sollte ich ihn dabei haben?«
    Sie hatten jetzt die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Die hohe, schwarze Form des östlichen Brückenturms rückte allmählich näher. Der Wind zerzauste ihre Haare und fuhr unter das Gewand des Alchimisten. Er begann zu frieren.
    »Ich habe von Schweinen gehört, die Pilze im Boden aufspüren«, sagte der Junge, »und von Hunden, die Goldadern im Inneren der Erde riechen. Aber ein Vogel, der eine Krankheit erkennt? Sagt, wollt Ihr mich auf den Arm nehmen?«
    Er lächelte nicht, während er sprach, noch schenkte er Cassius einen einzigen Blick. Starr schaute er nach vorn, während der Schein der Fackel über seine bleichen Züge tanzte.
    »Wieso sollte ich Spaße mit Euch treiben?« fragte Cassius. Die Kälte wurde immer unerträglicher.
    »Das frage ich Euch«, erwiderte der Junge ernst.
    »Ihr mißtraut mir?«
    »Ihr seid ein Lügner und Betrüger.«
    Cassius blieb stehen und tat entrüstet,

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