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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sterben.«
    Der Junge wurde kreidebleich, das war selbst im spärlichen Fackellicht zu sehen. Es war eines, an den eigenen Tod zu glauben, aber etwas anderes, ihn bestätigt zu bekommen. Die Klinge in seiner Hand zitterte. Ganz langsam knöpfte er sein Wams wieder zu.
    »Ich mache Euch einen Vorschlag«, sagte Cassius. »Ihr laßt mich laufen, ohne die Wächter am Brückentor zu alarmieren. Im Austausch werde ich für Euch dasselbe tun.«
    »Wie meint Ihr das?«
    »Ich werde niemandem von Eurer Krankheit erzählen. Ihr könnt Euch weiterhin frei unter Euren Freunden bewegen.«
    Der Junge starrte ihn mit bebenden Lippen an. »Weshalb sollte ich mich darauf einlassen?« »Weil niemand die letzten Tage seines Lebens verschenkt. Lebt, so lange Ihr noch könnt.«
    »Ich werde die anderen anstecken.«
    »Habt Ihr das nicht ohnehin schon getan, mein Freund?« fragte Cassius sanft. »Und zudem, was kümmert's mich? Ich bin kein Doktor, wie Ihr ganz richtig bemerkt habt.«
    Der Junge überlegte noch eine Weile länger, als vom Ufer plötzlich Rufe ertönten. Man forderte sie auf, sich zu beeilen.
    »Nun?« fragte Cassius.
    Der Junge schloß für einen Moment die Augen und nickte. »Einverstanden.«
    »Dann sollten wir nicht länger warten«, entgegnete Cassius erleichtert. »Ich gehe lieber hinter Euch, wenn Ihr gestattet.«
    So legten sie schließlich das letzte Stück bis zum Brückenturm zurück. Nachdem sie den Tunnel passiert hatten, ertönte eine Stimme.
    »Stehenbleiben!« verlangte ein Söldner. In einer Hand trug er das blanke Schwert, in der anderen einen Krug. Auch die übrigen Brückenwächter, mehr als ein Dutzend, hatten dem Wein fleißig zugesprochen. Inmitten der Schar standen zwei offene Fässer, hüfthoch mit rotem Rebensaft gefüllt.
    Eigentümlicherweise gab es auf dieser Seite der Brücke keine Zusammenrottung der Bürger. Nicht einmaleinzelne mußten am Betreten des Übergangs gehindert werden. Weit und breit waren die Soldaten die einzigen lebenden Wesen. Die Menschen in diesem Teil der Stadt wußten bereits, daß die Pest mitten unter ihnen war, und so mieden sie es, mit anderen in Berührung zu kommen.
    Cassius wiederholte vor dem Wortführer seine Geschichte vom Leibarzt der Fürstin Fallada. Sein junger Begleiter schwieg.
    »Was ist das für ein Vogel?« fragte der Posten und deutete schwankend auf Saxonius. Der Junge kam Cassius mit seiner Antwort zuvor. »Er wittert Kranke auf mehrere Schritte Entfernung.«
    »Ein braves Tier«, grölte der betrunkene Kerl und winkte fahrig mit den Armen. »Los, Alter, du kannst passieren.«
    Nachdem Cassius den Fackelschein des Söldnerlagers hinter sich gelassen hatte, wandte er sich noch einmalum. Er sah, wie die Männer dem Jungen einen Weinkrug reichten. Der nahm ihn dankbar entgegen und führte ihn an seine Lippen. Rot sprudelte ihm der Wein aus den Mundwinkeln und floß über sein Wams. Er lachte, andere stimmten mit ein. Dann tauchte er den Krug von neuem in das Faß, und die Wächter taten es ihm gleich.
    »Die Ankunft des Hühnerhauses steht kurz bevor«, sagte die erste der drei alten Frauen. »Und mit ihm kommt der Untergang über die Stadt. Das Haus wird in den Gassen wüten und die Paläste dem Erdboden gleichmachen. Seine Krallen werden die Menschen zerquetschen und ihre schmutzigen Leiber in Stücke reißen.«
    »Und aus der Asche wird ein neues Prag erstehen«, fuhr die zweite Frau fort. »Ein Prag des Friedens und der Gleichheit. Kein Arm und Reich mehr; kein Adel und kein Elend. Denn alle werden aus den gleichen Trümmern geboren, und auf ihnen werden sie die neue Stadt errichten. Keine Diener mehr und keine Herren. Keine Verschwendung und kein Hunger. Eine bessere, eine vollkommene Welt.«
    »Die Prophetin hat uns das Kommen des Hühnerhauses geweissagt«, sprach die dritte Frau. »Sie kam vor vielen Monden zu uns und verkündete seine Lehre. Wir werden bereit sein, wenn der Augenblick gekommen ist. Wir werden die Tore öffnen und den Feind der Menschheit einlassen, auf daß er bereinigt, was wir alle besudelt haben. Die Erde unter diesen Häusern soll wieder Erde sein, und die Asche eine neue Saat.«
    Sarai hörte schweigend zu und war einen Moment lang gewiß, daß die drei Alten den Verstand verloren hatten. Dann aber kamen ihr Zweifel. Drei Wahnsinnige mochten angehen, aber gleich mehrere Dutzend davon? Wie viele Hühnerweiber hatte sie in den Kellern gesehen? Dreißig, vierzig? Nicht alle konnten verrückt sein. Verwirrt - ja. Aber

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