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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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doch der Söldner ging weiter. Woher nahm er nur die Gewißheit, die ihn an Cassius' Worten zweifeln ließ?
    »Ihr kennt das Gesetz, alter Mann«, rief der Junge, ohne sich umzudrehen. »Wer auf der Brücke stehenbleibt, ist des Todes.«
    Etwa ein Drittel des Weges lag noch vor ihnen. Wenn der Junge ihn jetzt angriff, gab es niemanden, der Cassius beistehen konnte.
    »Kommt mit, alter Mann!« rief der Junge noch einmal, diesmal in härterem Tonfall.
    Der Alchimist setzte sich wieder in Bewegung. Auf der Brücke war er dem Söldner hilflos ausgeliefert. Der junge Kerl war schneller, wendiger und noch dazu bewaffnet. Sollte es wirklich zum Kampf kommen, dann war Cassius verloren.
    Er ging jetzt einige Schritte hinter dem Jungen und überlegte, wie alt er sein mochte. Achtzehn, höchstens neunzehn Lenze. Weshalb hatte gerade er ihn durchschaut und nicht einer der anderen, erfahreneren Söldner?
    »Wenn Ihr so sicher seid, daß ich lüge, warum habt Ihr das nicht gleich vor Eurem Hauptmann gesagt? Ihr hättet Euch den Weg hierher sparen können.«
    »Zu Anfang habe ich Euch geglaubt.« »Und woraus schließt Ihr jetzt, daß ich die Unwahrheit sage?«
    Der Junge schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ihr hättet nicht von dem Vogel sprechen dürfen, von seiner Witterung.«
    Cassius atmete tief durch. »Ist Euer Vater ein Doktor?«
    Der Söldner lachte verächtlich. »Mein Vater war ein Schwein. Ich habe ihn getötet.« »Ihr habt Euren eigenen Vater ermordet?« »Ich lüge nicht, alter Mann.« »Weshalb habt Ihr das getan?« Cassius versuchte, ihn
    in ein Gespräch zu verwickeln, bis sie den Brückenturm erreichten. Die Söldner, die dort Wache hielten, mochten ihm eher Glauben schenken.
    »Ich sagte Euch doch, er war ein Schwein. Versucht Ihr vielleicht, mich hinzuhalten?«
    Zitterte die Fackel in der Hand des Jungen? Da - jetzt zog er mit der anderen seinen Dolch. Die Klinge funkelte im Feuerschein.
    Cassius ging immer noch zwei Schritte hinter ihm. Er durfte nicht zulassen, daß der Junge jetzt anhielt und ihm den Weg versperrte. Der Brückenturm war nur noch dreißig Schritte entfernt.
    »Was habt Ihr vor?« fragte er den Jungen. »Wollt Ihr mich töten?« »Warum nicht? Ihr seid kein Doktor. Ihr werdet niemandes Leben retten.«
    »Vielleicht Eures.«
    Der Junge blieb plötzlich stehen und starrte ihn ausverkniffenen Augen an. »Meines? Weshalb meines?«
    Cassius holte tief Luft. »Ihr habt die Pest, nicht wahr?« Der Söldner lächelte gequält. »Was macht Euch da so sicher?«
    Cassius trat an ihm vorbei, ohne daß der Junge ihn aufhielt. Zwei Schritte vor ihm blieb er gleichfalls stehen.
    »Deshalb wußtet Ihr, daß meine Geschichte über den Vogel eine Lüge war. Weil er keine Witterung aufnahm, obgleich ich doch neben Euch ging.«
    Der Junge schwieg, drehte das Messer weiter zwischen den Fingern und musterte ihn.
    Cassius fuhr fort: »Ihr könnt versuchen, mich zu töten, aber vorher werde ich schreien. Ich werde Euren Freunden dort drüben am Turm die Wahrheit entgegenbrüllen. Was denkt Ihr: Wie nahe werden sie Euch an sich heranlassen? Zehn Schritte? Fünf? Noch näher? Oder werden sie Euch gleich mit der Muskete aufs Korn nehmen?«
    »Ich könnte Euch vorher die Kehle durchschneiden.«
    »Versucht es. Euer Leben steht ebenso auf dem Spiel wie das meine.« Der Junge lächelte. »Mein Leben ist vorbei, Alter. Keiner überlebt die Pest.« »Das ist nicht wahr. Viele haben sie überlebt. Vielleicht auch Ihr. Zeigt mir Eure Male.« »Ihr seid kein Doktor«, wiederholte der Junge noch einmal, aber es klang weniger hart als zuvor. »Zeigt mir Eure Male, und ich sage Euch, ob Ihr leben werdet.«
    Noch immer zögerte der Junge. Er warf einen Blick zum Brückenturm. Wahrscheinlich beobachtete man sie bereits. Die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, spiegelten sich nur zu deutlich auf seinen Zügen wider. Er überlegte, ob er das Risiko eingehen sollte.
    »Warum zögert Ihr, wenn Ihr doch so sicher seid, daß Ihr sterben werdet?« fragte Cassius.
    Der Junge verharrte noch einen Augenblick, dann legte er die Fackel auf die Mauerbrüstung. Mit dem Dolch in der Rechten begann er, die Knöpfe seines Wamses zu öffnen. Einen Augenblick später hatte er seinen Hals freigelegt. An beiden Seiten seines Kehlkopfs waren eitrige Schwellungen zu erkennen.
    »Und?« fragte er.
    Cassius kam einen Schritt näher, ohne ihn zu berühren. Eingehend betrachtete er die Male, dann sagte er: »Ihr habt recht. Ihr werdet bald

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