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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Euch darum bitte?« fragte sie.
    »Gehen?«
    »Fort?«
    »Wohin denn?«
    Sie gab sich Mühe, den prüfenden Blick der Alten unbeeindruckt zu erwidern. »Es gibt jemanden, der vielleicht weiß, wie man den Boten besiegen kann.«
    »Was?«
    »Wen?«
    »Wo ist er?«
    Darauf wollte sie vorerst keine Antwort geben. »Wenn Ihr mich zu ihm laßt, kann das nur Euer Vorteil sein. Ihr wollt, daß der mal'ak Jahve für seine Taten bezahlt - nun, ich will es zumindest versuchen. Was habt Ihr schon zu verlieren, wenn ich scheitere?«
    Zögern, dann: »Ja, was eigentlich?«
    »Nichts, rein gar nichts.«
    »Gar nichts, in der Tat.«
    »Dann darf ich gehen?« fragte Sarai hoffnungsvoll.
    Die drei Frauen tuschelten wieder miteinander. Diesmal dauerte ihre Beratung länger. Sarai trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Schließlich beugten sich die Frauen zurück, und die erste sagte: »Du darfst gehen.«
    »Du allein«, sagte die zweite.
    »Dein Freund muß bleiben«, verlangte die dritte. »Ein
    Wort über uns zu irgend jemandem, und er stirbt.«
    »Aber ich brauche ihn«, widersprach sie hastig. »Er muß mir helfen.«
    »Wir werden dir helfen.«
    »Wir geben dir einige unserer Schwestern mit.«
    »Sie werden dich auf deinem Weg begleiten.«
    »Nun sage uns: Wo ist derjenige, der weiß, wie man den mal'ak Jahve vernichtet?«
    Sarai war verzweifelt. Sie durfte nicht zulassen, daß die Hühnerweiber Kaspar etwas antaten. »Ihr werdet meinen Gefährten auf jeden Fall töten, nicht wahr?«
    »Nicht, wenn du vernünftig bist.«
    »Kein Wort zu niemandem.«
    »Nicht ein einziges.«
    »Und wann laßt Ihr ihn laufen?« fragte Sarai.
    Die Frauen schwiegen eine Weile, dann sagte die erste: »Wenn es dir gelingt, den mal'ak Jahve zu besiegen, dann wird dein Freund am Leben bleiben. Vorausgesetzt, er schwört, zu schweigen.«
    »Das wird er«, sagte Sarai.
    »Dann hast du unser Wort, daß ihm nichts geschieht.«
    »Wenn du Erfolg hast.«
    »Und den mal'ak Jahve besiegst.«
    »Ich möchte ihn vorher noch einmal sehen«, bat Sarai.
    Die Frauen blickten einander an. »Sie liebt ihn wohl.«
    »Das ist schlecht.«
    »Sehr schlecht.«
    »Liebe lenkt ab. Macht unvorsichtig.«
    »Sieger lieben nicht.«
    »Haben anderes im Kopf.«
    Sarai hörte fassungslos zu, dann fuhr sie dazwischen. »Ich liebe ihn nicht. Aber er hat mein Leben gerettet.« »Eine lästige Verpflichtung.« »Du solltest froh sein, wenn wir ihn töten.« »Bist ihm dann nichts mehr schuldig.«
    »Schuld lenkt ab. Macht unvorsichtig.« »Sieger sind in niemandes Schuld.«
    »Haben Besseres im Kopf.«
    »Du solltest froh sein, wenn ...«
    »Es reicht!« rief Sarai zornig aus. Nicht einmal ihre Furcht konnte sie bewegen, nur einen Augenblick länger zuzuhören. »Ich will ihn noch einmal sehen. Sofort. Danach werde ich gehen.«
    »Du sollst ihn sehen«, gestand die erste der Frauen ihr zu.
    »Kurz.«
    »Aber allein.«
    »Bist du zufrieden?«
    »Es siegt sich besser, wenn man zufrieden ist.«
    Sarai seufzte ergeben und verzichtete auf Widerspruch.
    Helena Koprikova, Gründerin des Hühnerkultes und Vertraute der Prophetin, war, wie Sarai kurz darauf erfuhr, dem mal'ak Jahve bereits vor mehreren Wochen zum Opfer gefallen. Nachdem sie Schatten und Seele verloren hatte, war nicht allein ihr Glaube in sich selbst, sondern auch ihr Zutrauen zum Hühnerhaus geschwunden. Sie hatte versucht, dem allen ein Ende zu setzen, indem sie Feuer an sich selbst und das unterirdische Versteck legte. Die Hühnerweiber hatten die Flammen gelöscht, ehe sie allzu große Zerstörung anrichten konnten, und so war lediglich die Gründerin samt ihrer Kammer verbrannt.
    Man brachte Sarai aus dem Throngewölbe durch den Versammlungssaal direkt in den zerstörten Teil der geheimen Kelleranlage. Dies war der einzige Raum, in dem es nicht von Frauen in Federmänteln wimmelte.
    Kaspar war noch nicht da, als man sie allein in der ausgebrannten Kammer zurückließ. Sarai nutzte die Zeit, um sich umzuschauen. Es gab nur die eine Tür und kein einziges Fenster. Der gesamte Raum war pechschwarz von Ruß, und noch immer stank es erbärmlich nach Rauch und Asche. An den Wänden der weitläufigen Kammer erkannte Sarai die Überreste von Hühnerkäfigen, ganz ähnlich jenen, die sie während der Fluchtvor dem Boten auf den Gängen gesehen hatte. Die meisten waren vollkommen verkohlt, und in nahezu allen lagen Reste verbrannter Hühnerknochen. Die Tiere waren mit ihrer Meisterin umgekommen. Niemand hatte seit dem Feuer

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